Wege des Pointillismus. Seurat, Signac und die Folgen

Rückblick auf eine großartige Ausstellung in der Wiener Albertina

von Rainer K. Wick

lks. Alfred Sisley, Flußlandschaft „Moret, die Ufer des Loing“ (1885), re. Jan Toorop,  „Landschaft mit Kastanienbaum“ (um 1889)
 Foto © Rainer K. Wick

Wege des Pointillismus.
Seurat, Signac und die Folgen
 
Rückblick auf eine großartige Ausstellung in der Wiener Albertina
 
Es sind zwei oder drei Namen, die regelmäßig mit dem Pointillismus in Verbindung gebracht werden: George Seurat, Paul Signac und – mit gewissen Einschränkungen – Camille Pissarro, dem das Wuppertaler Von der Heydt-Museum im vorletzten Jahr eine großartige Schau eingerichtet hatte. Eine kürzlich zu Ende gegangene Ausstellung in der Albertina in Wien ging nun den „Wegen des Pointillismus“ nach, zeigte also in einer breit angelegten Schau die eminenten Auswirkungen der „Punktmalerei“, die bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts reichen.
 
Didaktischer hätter der Auftakt der Wiener Pointillismus-Ausstellung kaum sein können. Auf der ersten Wand fanden sich nebeneinander zwei Landschaftsbilder, die auch dem blutigsten Laien deutlich machen konnten, was ein impressionistisches Gemälde von einem neoimpressionistischen, pointillistischen unterscheidet: links Alfred Sisleys locker gemalte Flußlandschaft „Moret, die Ufer des Loing“ (1885) und rechts daneben Jan Toorops minutiös gepunktete „Landschaft mit Kastanienbaum“ (um 1889). Ein freier, spontaner Pinselduktus und Bewegung hier, ein akribischer Farbauftrag und Erstarrung dort. Und etwas anderes lehrte dieses Bildpaar im Eingangsbereich der Ausstellung, nämlich daß sich der Pointillismus nicht auf die Namen Seurat und Signac reduzieren lässt, sondern daß sich im Fahrwasser der bekannten Protagonisten zahlreiche andere Künstler, auch außerhalb Frankreichs, dem Neoimpressionismus angeschlossen haben – so vor allem in Belgien und den Niederlanden.
 

Paul Signac, Das Speisezimmer, 1886-87 - Foto © Rainer K. Wick

Die achte und letzte, von Camille Pissarro organisierte Ausstellung der Pariser Impressionisten im Jahr 1886 war so etwas wie der Abgesang des Impressionismus. Zugleich signalisierte sie den Aufstieg des Pointillismus oder – wie der Kritiker Félix Fénéon die neue Richtung nannte – des Neoimpressionismus. Pissarro, nicht selten als Vater des Impressionismus apostrophiert, hatte sich zwischenzeitlich dem in Entstehung begriffenen Pointillismus angeschlossen und seine neuen und neuartigen Arbeiten gemeinsam mit den jungen „Punktmalern“ Seurat und Signac in einem separaten Raum gezeigt. In den nächsten vier Jahren, zwischen 1886 und 1890, kam es zur Hochblüte des Pointillismus, auf die dann eine lange Phase der Aneignung und Umbildung durch andere Maler folgte.

 
  Vincent van Gogh, Blühender Garten mit Pfad, 1888 - Foto © Rainer K. Wick
 
Es war der junge George Seurat, der nach akademischen und impressionistischen Anfängen zur Systematisierung des Farbauftrags und zur Stabilisierung der Bildarchitektur gelangte und damit entscheidend zur Überwindung des Impressionismus beitrug. Als Ergebnis umfangreicher und langwieriger Vorarbeiten schuf er das großformatige, 207 × 308 cm messende Bild „Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte“, das er nach zwei Jahren im Frühling 1886 vollendete und das als Programmwerk des Neoimpressionismus gelten kann. Es zeigt Spaziergänger am Seine-Ufer, meist in Seitenansicht, seltener frontal oder auch in leichter Drehung, deren Bewegungen gleichsam erstarrt oder eingefroren zu sein scheinen. Das Bild ist streng komponiert, geradezu konstruiert, es dominieren die Vertikalen und Horizontalen, und trotz des Eindrucks einer außerordentlichen Lichtfülle hat es nichts von der atmosphärischen Leichtigkeit thematisch ähnlicher Bilder impressionistischer Maler. Zudem handelt es sich um ein Bild, das die Dimensionen impressionistischer Gemälde um ein Vielfaches übersteigt und in seiner aus dem punktförmigen Farbauftrag resultierenden Präzision und mit seiner gemalten Rahmenbordüre der Spontanmalerei der Impressionisten diametral entgegengesetzt ist. Leider fehlte in der Wiener Ausstellung dieses im Art Institute of Chicago befindliche Hauptwerk des Pointillismus, wie auch andere Schlüsselwerke Seurats schmerzlich vermisst wurden. Dafür wurde der Besucher aber mit einem kapitalen Werk des zweiten bedeutenden Pointillisten, nämlich Paul Signacs „Das Speisezimmer“ von 1886/87, entschädigt. Mit seinen in „strenger Profil- und Frontalansicht“ statuarisch konzipierten und gleichsam im „Zustand der Zeitlosigkeit“ erfassten Figuren (Kurator Heinz Widauer im Katalogbuch) kann dieses Bild gewissermaßen als Antwort des jüngeren Signac auf Seurats „Grande Jatte“ gelesen werden.

 
  André Derain, Waterloo Bridge, 1906 - Foto © Rainer K. Wick
 
Im Unterschied zu Seurat, der eine formale Ausbildung als Künstler erhalten hatte, war Signac Autodidakt, der gewissenhaft den Lehren des älteren Kollegen folgte und, als Seurat 1891 mit nur einunddreißig Jahren starb, dessen Nachfolge als Haupt der Neoimpressionisten antrat. Ihm ist die theoretische Fundierung des Pointillismus zu verdanken, insbesondere im Hinblick auf das Prinzip der Zerteilung oder Zerlegung (Division) einer Farbe in ihre reinbunten Komponenten mit dem Ziel, die Leuchtkraft zu maximal zu steigern. Die Mischung der Farben erfolgt demnach nicht materiell auf der Palette des Künstlers, sondern – Punkt für Punkt auf der Bildfläche nebeneinandergesetzt – optisch auf der Netzhaut des Betrachters. 1899 hat Signac, der auch als Heiliger Paulus des Neoimpressionismus tituliert worden ist, seine Theorie des Divisionismus in der Programmschrift „D’Eugène Delacroix au néo-impressionnisme“ ausformuliert, die 1903 auch in deutscher Übersetzung erschien. Darin berief er sich auf einige zu jener Zeit maßgebliche Autoritäten, die sich dem Phänomen Farbe (natur)wissenschaftlich näherten, allen voran Michel Eugène Chevreul mit seinem schon 1839 publizierten Werk „De la loi du contraste simultané des couleurs“ („Über das Gesetz des Simultankontrastes der Farben“). Die Anwendung damals neuer Erkenntnisse der Physik und der Physiologie, die in der Wiener Ausstellung leider nicht veranschaulicht wurden (etwa in Vitrinen in Gestalt der einschlägigen Referenzliteratur), hatte eine Verwissenschaftlichung des Impressionismus durch die Neoimpressionisten zur Folge, die sich in der hochgradig disziplinierten Malpraxis als Verlust an Unmittelbarkeit, in der Bildästhetik als dezidierte Verfestigung der Form äußerte. Neben Gemälden von George Seurat, Paul Signac und Henri-Edmond Cross, einem der engsten Künstlerfreunde Signacs, belegten dies in der Albertina auch zahlreiche Arbeiten belgischer und niederländischer Pointillisten, die sich noch vor dem Tod Seurats der neuen Bewegung anschlossen, so vor allem Alfred William Finch, Henry van de Velde, der bald darauf als „konvertierter Maler“ zu einem der einflussreichsten Gestalter des Jugendstils wurde, Jan Toorop und Théo van Rysselberghe. Folgte letzterer anfänglich streng den Maximen der Gründer des Neoimpressionismus, wurde seine Malerei im Laufe der Zeit doch lebendiger und lockerer, die richtungs- und formneutralen Punkte wichen kommaartigen Strichen und das Leben schien in seine Gemälde zurückzukehren. Dies gilt übrigens auch für Signac selbst, wie seine späteren Hafenansichten und Landschaften bezeugen. Und bei Jean Metzinger und dem frühen Delaunay wurden aus kurzen Strichen sogar klar definierte Quadrat- und Rechteckformen von bis zu einem Quadratzentimeter Größe, so daß ihre Bilder der 1910er Jahre zuweilen regelrecht an Mosaike erinnern.

 
 Maximilian Luce, Die Eisengießerei, 1899 - Foto © Rainer K. Wick
 
Ein Sonderfall ist Vincent van Gogh, der aus Antwerpen kommend Anfang 1886 in Paris eintraf. Hier lernte er die Avantgarden jener Zeit kennen, neben den Impressionisten auch Seurat und Signac. Im Bemühen, den Anschluss an die damals progressiven künstlerischen Richtungen zu finden, experimentierte mit den bildsprachlichen Mitteln sowohl des Impressionismus als auch des Neoimpressionismus. Erste divisionistische Einflüsse lassen sich zu Beginn des Jahres 1887 erkennen, doch zeigte sich schnell, daß der disziplinierte Farbauftrag in Form kleinster Punkte dem ungestümen Temperament des Künstlers zuwiderlief. Rasch wurden aus den Punkten eilig hingeworfene Striche, die später, in Südfrankreich, teilweise zu expressiv ondulierten Formgebilden mutierten, wie die Wiener Ausstellung mit einigen herausragenden Exponaten deutlich machte.
 
Zu den weniger bekannten Pointillisten zählt Maximilien Luce, der derselben Generation wie Seurat und Signac angehört. Im Unterschied zu deren statischen Kompositionen sind seine Figurenbilder wesentlich dynamischer, und anders als Signac und Cross, die in der 1890er Jahren pastorale Sujets und arkadische Themen aufgriffen und die Utopie einer harmonischen Lebenswelt beschworen, hat sich Luce unter anderen auch
 
Théo van Rysselberghe, Sitzender Akt, 1905 - Foto © Rainer K. Wick
politischen Ereignissen, etwa dem tödlichen Geschehen im Rahmen der Pariser Kommune des Jahres 1871, oder der Arbeitswelt der Proletarier („Die Eisengießerei“, 1899, s.o.) zugewendet und dabei aus seiner Sympathie für die Aufständischen bzw. Ausgebeuteten keinen Hehl gemacht.
 
Mit van Gogh führen die „Wege des Pointillismus“ gleichsam schnurgerade in die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts. Gut dokumentiert waren in der Wiener Ausstellung die Fauves mit Matisse, Derain und Vlaminck, ferner die italienischen Futuristen, die sich der Techniken des Pointillismus und der Methoden des Divisionismus bedienten, um Bewegung, Geschwindigkeit und Beschleunigung sowie die auf den modernen Menschen einstürmenden vielfältigen Wahrnehmungseindrücke zu visualisieren, sodann Braque und Picasso, der in verschiedenen Werkphasen immer wieder auf den Punkt als bildnerisches Mittel bzw. auf das Punktieren als Methode zurückgegriffen hat, bis hin zu Piet Mondrian und den „pointillistischen“ Bildern Paul Klees aus seiner Nach-Bauhauszeit, denen Michael Baumgartner, Direktor des Zentrums Paul Klee in Bern, in dem exzellenten Katalogbuch einen erhellenden Aufsatz gewidmet hat. Es war das Verdienst der mit hundert Werken repräsentativ bestückten Ausstellung in der altehrwürdigen Albertina, dem Besucher schlüssig Wesen und Wandel des Pointillismus als einer avancierten und erstaunlich nachhaltigen Praxis künstlerischen Gestaltens vor Augen geführt zu haben.„Avantgarde“, so Bazon Brock, „ist nur das, was zwingt, neue Traditionen aufzubauen.“ Die Wiener Schau lieferte dafür ein eindrucksvolles Beispiel.
 
Rainer K. Wick 
alle Fotos © Rainer K. Wick