Karl Otto Mühl - Die Erdung mit der Gegenwart oder: Alltag ist immer

Dem Freund zum 85. Geburtstag ins Stammbuch geschrieben

von Hermann Schulz

         

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker
  Hermann Schulz - Foto © Frank Becker


Karl Otto Mühl

Hermann Schulz zum 85. Geburtstag des Freundes

„Alles sehr regional“, urteilte ein Schriftstellerkollege über Texte von Karl Otto Mühl. Ich finde, da ist Mühl in guter Gesellschaft von Fontane, Stifter oder Balzac. Alle erkennbare Welt ist schließlich nur regional zu begreifen. Mühls Bücher sind seinen Orten, den Menschen und oft ihren verworrenen Träumen eng verbunden, aber er läßt sie nicht in ihrem Milljöh verkommen. Dazu weiß er genug von ihrer Liebesfähigkeit und hat genug von der Welt gesehen: als Reisender der Firma Stocko viele Länder und Kontinente, als Kriegsgefangener Ägypten, Südafrika, Neuseeland, USA oder England, als literarischer Abenteurer Düsseldorf-Garath, Bonn, Uellendahl oder Neviges. Was seine Geschichten unverwechselbar macht ist, daß sie nicht in Phantasien oder Gefühlen abdriften oder in konstruierten Handlungen Bedeutung vortäuschen.

In seinem Brotberuf als Kaufmann war dieser Schriftsteller, obwohl von Kindheit an literarisch interessiert, nach eigener Aussage durchaus nicht unglücklich. Sein Zeugnis vom 31. Dezember 1986  bescheinigt ihm Loyalität und gute erfolgreiche Arbeit. Er übernahm im Beruf Verantwortung und entdeckte darin sogar ein gewisses Eros. Der Sohn des Maschinenschlossers aus Nürnberg übernahm dann auch Verantwortung in der eigenen Familie und jene seinen Büchern gegenüber. Alle, auch die scheinbar unliterarischen Entwicklungsphasen waren der Entwicklung des Autors förderlich und schärften seinen Blick.

Woraus speist sich das Werk von K.O. Mühl? Wo spürt er den Atem der Geschichte, wo streift ihn der Mantel des Weltgeistes? Dazu zwei Begebenheiten unterschiedlicher Färbung.

Am Ende einer PEN-Tagung besuchten Otto und ich an einem sonnigen Morgen Weimar. Ich fand einen Parkplatz in der Nähe vom Frauenplan, denn natürlich – so gehört sich es sich - wollten wir Goethes Haus sehen, ohne es unbedingt zu besichtigen, was uns schlechtes Gewissen bereitete. Otto verschwand in einem von Japanern belagerten Kiosk, um sich seine Lieblings-Tageszeitung zu kaufen, während ich am Straßenrand in der Sonne wartete und schnell herausgefunden hatte, daß das Goethehaus geschlossen war. Das Gewissen war beruhigt; Otto würde sich über die gute Nachricht freuen.

Unweit standen zwei vielleicht zwölfjährige Mädchen mit blonden Zöpfen und mit Zahnspangen und Kleidchen wie aus der Nachkriegszeit. Sie sangen, getreulich eine Strophe nach der anderen, „Freude schöner Götterfunke“ in der auch in Wuppertal  bekannten Vertonung von Beethoven. Für Spenden hatten sie eine Mütze auf dem Pflaster deponiert. Da beobachtete ich, wie der israelische Journalist und Schriftsteller Uri Avneri, der in Westfalen geboren ist, mit seiner Frau um die Ecke bog, offensichtlich auf dem Weg zum Goethehaus. Der weißhaarige Mann blieb stehen, gerührt vom Anblick und Gesang der so deutschen Mädchen, er flüsterte mit seiner Frau und legte einen beachtlichen Schein in die rote Mütze.

In solchen Momenten läuten bei vielen Schriftstellern alle Glocken Sturm: Eine solche Szene, wo Goethe und Beethoven im Gesang deutscher Kinder Nachbarn werden, wo deutsche und jüdische Geschichte sich begegnen - kann man sie in ihrer Schlichtheit und Bedeutungsschwere besser erfinden?  Was hätte so mancher Autor daraus gemacht?

Statt den Notizblock zu zücken, widmete sich Otto Mühl in einem Café seiner Zeitung. Die großen Symbole, die uns wie mit Zauberhand der Weltgeist zuspielt, sind nicht seine Sache. Jedes falsche Pathos ist ihm fremd, er gehörte nie zu den Autoren, die einfach Bedeutung behaupten oder vorspiegeln.

Die Vorlagen zu Werken findet Mühl woanders. Auch davon ein Beispiel.

Ein Samstagmorgen. Die Verkäuferin einer Stehbäckerei am Domagkweg raucht vor der Tür noch schnell eine Zigarette, bevor der nächste Kunde kommt. Otto stellt sich neben sie, verstrickt sie in ein Gespräch, ermahnt sie freundlich, das Rauchen vielleicht einzustellen, auch er kenne das aus seiner Raucher-Vergangenheit, und seine eigene Tochter sei ja auch anfällig …

Das kleine Stück Prosa, das nach dieser Begegnung und dem darauf folgenden Spaziergang entstanden ist, ist ein Juwel. Hier kann man im Kleinen sehen, was ihm auf der Bühne und im Romanen unvergleichlich gelingt: Der gütige Blick hinter den Vorhang.

Er hatte in diesen Jahren immer die Antennen ausgefahren, die Fülle der Beobachtungen und Eindrücke ist oft so mächtig, dass an einem Tag gut und gern - neben aller anderen Arbeit - fünf, zehn oder mehr Gedichte, geklopfte Sprüche - so nennt er seine Aphorismen - oder kurze und längere Essays für seine Freunde dabei heraus kommen. Gedankensplitter, Erkenntnisse, festgehaltene Gefühle, Zweifel.

Stelle den Fuß in die Tür zum Unendlichen, aber klopfe sehr leise und höflich an.

Mir liegt an dem Hinweis, wie Mühl seine Themen findet und sie poetisch verarbeitet.  Da gibt es keine Alltagswelt, denn Alltag ist immer, auch während einer Sonntagspredigt. Da gibt es keine kleinen Leute, denn alle sind kleine Leute in ihren oft vergeblichen Versuchen, das Leben zu meistern und es zu rechtfertigen.

Jedes unerwartete Telefonat führt ihn, der über ein bewundernswertes Netz von Freundschaften verfügt, an alte Geschichten und wird zum Abenteuer, ermöglicht die Erdung mit der Gegenwart. Er hat nie vorgegeben, den Nebel, in dem unsere Leben verborgen sind, vertreiben zu können. Aber Mühl zeigt einen Weg durch die Nebelwand, einen einsamen, oft schwierigen und mühsamen Weg. Das ist mehr, als man von den meisten Autoren unserer Zeit sagen kann.

Ich denke, das kann man nur leisten mit seiner erotischen, humorvollen und freundlichen Leidenschaft für die Winkelzüge und Geheimnisse des Lebens. Und seiner unverwechselbaren kräftigen und präzisen Sprache.


© Hermann Schulz - Als Rede zu Karl Otto Mühls Ehrentag (16. Februar) gehalten beim Festakt am 9. März 2008
Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008