Henry Moore – Vision. Creation. Obsession

Großartige Skulpturenschau im Arp Museum Bahnhof Rolandseck

von Rainer K. Wick

Henry Moore, Goslar Warrior 1973-74 - Foto © Rainer K. Wick 

Henry Moore – Vision. Creation. Obsession
 
Großartige Skulpturenschau im Arp Museum Bahnhof Rolandseck
 
Nachdem das Arp Museum im rheinland-pfälzischen Remagen-Rolandseck im letzten Jahr mit einer exquisiten Ausstellung von Arbeiten Barbara Hepworths, der Grande Dame der britischen Bildhauerkunst, begeistert hatte (Musenblätter, 04.08.2016), ist es nun ihr berühmter Kollege Henry Moore, der in den Räumen des von Richard Meier entworfenen, vor zehn Jahren eröffneten Museumsneubaus am Rhein einen großen Auftritt hat. Die Konzeption der Ausstellung orientiert sich an den drei Leitbegriffen „Vision, Creation, Obsession“, die eigentlich keiner Übersetzung bedürfen, mit Blick auf die Schau in Rolandseck in ihrer spezifischen Sinngebung aber doch erläuterungsbedürftig sind. „Vision“ meint im Verständnis der Kuratoren Moores lebenslange Orientierung an den Ideen und Idealen von Humanität, wie der Künstler sie nicht nur in seinen eigenen Arbeiten umzusetzen suchte, sondern auch in der Kunst des Mittelalters, der Renaissance und streckenweise auch in der Kunst des 19. Jahrhunderts zu finden glaubte. „Creation“ übersetzen die Kuratoren als schöpferische Originalität, die sich im künstlerischen Credo „Nicht abbilden, sondern bilden“ fassen läßt, und „Obsession“ bezieht sich auf Moores leidenschaftliches Interesse am großen Format, das in seinem Œuvre seit den 1950er Jahren zunehmend an Bedeutung gewann.


oben: Henry Moore, Large Reclining Figure, 1984; unten: Henry Moore,
Reclining Figure, 1938 - Fotos © Rainer K. Wick 
Nähert man sich vom Rhein her dem historischen Bahnhof Rolandseck, so sieht sich der Museumsbesucher zunächst mit der auf dem Rasen lagernden, neun Meter breiten, aus schneeweißem Fiberglas gegossenen „Large Reclining Figure“ von 1984 konfrontiert. Mit dieser „Großen Liegenden“ wird eines der Hauptthemen Moores angeschlagen, das den Künstler ein Leben lang beschäftigt und das er gleichsam von A bis Z durchdekliniert hat. Befindet man sich später dann im lichtdurchfluteten Museumsneubau, entdeckt man die nur knapp siebenunddreißig Zentimeter große Bronze „Reclining Figure“ aus dem Jahr 1938, die effektvoll vor der Kulisse des auslaufenden Siebengebirges plaziert ist, und stellt fest, daß die Fassung aus Fiberglas nichts anderes ist als die fast ein halbes Jahrhundert später erfolgte Übertragung dieser Kleinplastik ins große Format. Deutlich wird an diesem Beispiel, daß eine Form unabhängig von ihrer Größe monumental sein kann, und Moore hat immer darauf hingewiesen, daß die Monumentalität einer Form eine Frage des Maßstabs und nicht eine Frage der konkreten Größe sei. Dies belegen auch die zahlreichen Kleinplastiken und Maquetten aus dem Studio des Künstlers, die in Rolandseck ausgestellt sind und denen zum Teil umstandslos der Dimensionssprung ins Großformat zuzutrauen wäre.
 
Noch vor Betreten des Museums begegnet der Besucher in der Eingangszone zum zweiten Mal dem Thema der liegenden Figur, diesmal in Gestalt des „Goslar Warrior“ (1973/74, Abb. oben), einer Skulptur, deren Name auf den Standort eines der im Garten der Goslarer Kaiserpfalz befindlichen Bronzegüsse zurückzuführen ist. Dargestellt ist ein sich aufbäumender, letztlich aber trotz seines Rundschilds schutzlos sterbender Krieger – eine aus dem Geist des Humanismus gespeiste Kritik des Künstlers am Krieg und der Sinnlosigkeit des „Heldentodes“.
Bevor man über Fahrstühle den dreigeschossigen Neubau Richard Meiers erreicht, lädt die Kunstkammer Rau zu einem Rendezvous zwischen Henry Moore und Kunstwerken aus der Sammlung des 2002 verstorbenen Tropenmediziners und Kinderarztes Gustav Rau ein. Schon zu Lebzeiten hatte der Sammler seinen Kunstbesitz der Stiftung des Deutschen Komitees für UNICEF, dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, vermacht und dem Arp Museum Bahnhof Rolandseck als langfristige Leihgabe mit der Auflage der kunstwissenschaftlichen Erschließung und der öffentlichen Präsentation überlassen. Hier sind nun Korrespondenzen zwischen den Beständen der Sammlung Rau und Arbeiten von Henry Moore gelungen, die die Begeisterung des Bildhauers sowohl für die Gotik und Renaissance in Italien als auch für einige französische Künstler des 19. Jahrhunderts, u.a. für den großen Realisten Gustave Courbet, belegen.

Den alten Bahnhof Rolandseck aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und den höher gelegenen, vor zehn Jahren eröffneten Museumsneubau Richard Meiers verbindet ein unterirdischer Korridor, der unter den Schienen der linksrheinischen Bahnstrecke Koblenz – Köln verläuft, sowie ein zweiter unterirdischer Gang in Form einer runden Betonröhre. Nicht zufällig haben die Kuratoren gerade diesen Ort gewählt, um hier Moores Bronze „Draped Reclining Figure“ (Bekleidete liegende Figur) von 1952/53 zu platzieren. Denn dieses Arrangement evoziert spontan die Erinnerung an die erschütternden „Shelter Drawings“, die der Künstler zu Beginn der 1940er Jahre geschaffen hatte. Sie zeigen Menschen, die in der Londoner Untergrundbahn, der sogenannten Tube (englisch „Röhre“), Schutz vor den Bombenangriffen der deutschen Luftwaffe suchten und dort in Todesangst dicht gedrängt, halb sitzend, halb liegend, ausharrten.


Henry Moore, Draped Reclining  Figure 1952-53 - Foto © Rainer K. Wick 

Ist man dann in den offenen Räumen des Museumsneubaus ankommen, trifft den Besucher die ganze Wucht der großformatigen Werke des Meisters. In ihren Ausmaßen genuin für den Außenbereich konzipiert, erscheinen sie hier, im musealen Innenraum, noch kolossaler als im Freien. Für Moore gibt es „drei Grundhaltungen der menschlichen Figur. Stehen, Sitzen und Liegen. [...] Die Haltung, die kompositionell und räumlich am meisten Freiheit gewährt, ist die liegende“ – so der Künstler. Daß aber auch eine stehende Figur großartige Gestaltungsmöglichkeiten bietet, hat Moore mit seiner „Large Standing Figure: Knife Edge” (Große stehende Figur: Messerschneide) von 1961 unter Beweis gestellt, die schon in den 1970er Jahren eine Zeitlang in Rolandseck, damals am Rheinufer, gestanden hatte. Inspiriert von einem Tierknochen „so leichtgewichtig und fein wie [eine] Messerschneide“ schuf Moore eine Skulptur, die nicht auf Frontalität und Einansichtigkeit, sondern auf Mehransichtigkeit angelegt ist und rundum abgeschritten werden will. Nur so wird erfahrbar, wie „sich die Breite und Flachheit der Vorderansicht allmählich über die Dreiviertelansichten zu den dünnen, scharfen Kanten der Seitenansichten und dann wieder zur Breite der Rückansicht“ (Henry Moore) verändern.


Henry Moore, links: Large Standing  Figure. Knife Edge, 1961; rechts oben: Two Piece Reclining Figure. Points, 1969; rechts
unten: Large Four -
Fotos © Rainer K. Wick 

Obwohl der Künstler nie rein „gegenstandslos“ gearbeitet und selbst in seinen abstrakten Plastiken immer den Bezug zur menschlichen Figur gewahrt hat, begannen sich seit den 1950er Jahren die Formen doch zunehmend zu verselbständigen. Charakteristisch ist die Anwendung des Prinzips des Aufbrechens und der Fragmentierung der Form, ihrer Zerlegung in Masse und Hohlraum, das Zusammenspiel von „internal“ und „external forms“. Die mehrteiligen liegenden Figuren des Künstlers stellen nach dessen eigener Aussage „immer noch eine Einheit, nicht zwei oder drei getrennte Figuren dar. [...] Wenn es sich um eine Einzelfigur handelt, kann man erraten, wie sie aussehen wird. Sind es zwei Teile, dann ist die Überraschung größer, man hat mehr unerwartete Blickwinkel.“ Jeder Besucher der Ausstellung wird dies angesichts von Monumentalplastiken wie „Two Piece Reclining Figure: Points“ (1969), „Large Four Piece Reclining Figure“ (1972/73) oder der im Außenraum platzierten großen Skulptur „Three Piece Sculpture. Vertebrae“ (1968/69) bestätigen können. „Vertebrae“ bedeutet im Englischen Wirbel und ist ein Wort, dem zum Verständnis der Plastiken Henry Moores geradezu eine Schlüsselfunktion zukommt: „Ich hatte seit meiner Studienzeit“, so der Künstler, „eine Vorliebe für Knochen, habe sie gezeichnet, im Naturhistorischen Museum studiert, habe Knochen am Strand gefunden oder sie aus dem Suppentopf gezogen und aufgehoben. Man kann von Knochen so manches über Struktur und Skulptur lernen.“ Höchst aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang ein Skizzenblatt aus dem Jahr 1932, das die zeichnerische Metamorphose eines Knochens in eine „Mutter mit Kind“ nachvollziehbar macht („Transformation of Bones into Mother and Child Sculpture“). Neben Knochen waren für Moore auch rund geschliffene Kieselsteine, Schwemmholz und andere Fundstücke aus der Natur ein stete Quelle der Inspiration. In dieser Hinsicht drängen sich Querverbindungen zu Hans Arp, dem Hauspatron des Museums, auf, der gemeinsam mit Moore schon 1936 in der Londoner „International Surrealist Exhibition“ ausgestellt hatte. Für beide, Arp und Moore, war die Natur eine maßgebliche Bezugsgröße ihres künstlerischen Schaffens, und die Schau in Rolandseck sucht durch kluge Gegenüberstellungen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen ihnen herauszuarbeiten. Übereinstimmend ist eine hilfsweise als „organisch“ oder auch als „biomorph“ zu bezeichnende Formensprache, doch während Moore, wie erwähnt, trotz seiner abstrakten Gestaltungen an der menschlichen Figur festhielt, gelangte Arp nicht selten zu Formgebilden, die Figuratives nur noch erahnen lassen oder oft auch gänzlich gegenstandslos erscheinen.

 
Henry Moore, Three Piece Sculpture Vertebrae 1968-69 - Foto © Rainer K. Wick

Mit seinem umfang- und facettenreichen Œuvre war Henry Moore für Generationen moderner Bildhauer eine der einflussreichsten Leitfiguren. Längst gilt er als Klassiker der Kunst des 20. Jahrhunderts. Etwas mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod wir er in Rolandseck nun mit einer „der umfassendsten und faszinierendsten Präsentationen [...] in den letzten Jahrzehnten in Deutschland“ gewürdigt, wie Sebastiano Barassi, der Sammlungs- und Ausstellungsleiter der englischen Henry Moore Foundation, es auf den Punkt gebracht hat.
 
Das bei Hirmer erschienene, schön gestaltete und exzellent gedruckte querformatige Katalogbuch mit zahlreichen Abbildungen, unter anderem auch brillanten fotografischen Ansichten aus der aktuellen Ausstellung, enthält lesenswerte Textbeiträge und kann dem kunstinteressierten Besucher nur ans Herz gelegt werden. Die Ausstellung läuft noch bis zum 7. Januar 2018. Näheres unter: http://arpmuseum.org/ausstellungen/wechselausstellungen/aktuell/henry-moore-vision-creation-obsession.html