Fremdsein und Selbstwerden - Das Paradox der Heimat

Ein Vortrag anläßlich des Raumes >Erinnere dich jetzt< von Thomas Henke

von Andreas Steffens

© Thomas Henke

 Fremdsein

und

Selbstwerden


Das Paradox der Heimat

 


Ein Vortrag von Dr. Andreas Steffens im Museum Korbach, 07. März 2008

Anläßlich der Eröffnung des Raumes >Erinnere dich jetzt< von Thomas Henke

 

Aber wer atmet schon die Luft, von der er glaubt, sie sei ihm bestimmt?
Wolfdietrich Schnurre


Wer wüßte nicht, oder hätte keine Vorstellung davon, was ‚Heimat’ ist?

Genau darin aber liegt die erstaunlich große Schwierigkeit ihres Verständnisses, dessen wir so sicher zu sein glauben: jeder hat sein eigenes.

Wäre es kein Zeichen geistiger Schwäche, eine Überlegung mit der Definition schon zu beginnen, die sie doch erst in ihrem Verlauf zu finden hat, so läge hierin ein Vorgriff auf eine Definition von Heimat bereit: sie ist etwas, das zu jedermanns Existenz gehört. Anders gesagt: sie ist nichts, was einen nichts anginge, gleichgültig, ob einer sich darum kümmert, oder nicht. Heimat ist etwas Unvermeidliches.

Als Begriff ist Heimat wenig zu fassen. Begriffe werden durch Verneinung gebildet. Etwas kann dann als bestimmt gelten, wenn nicht mehr unklar ist, was es nicht ist. Definitionen sind immer negativ. Denn es ist die Funktion des Begriffs, auf das Abwesende bezogen zu sein. Aber nicht nur, um es anwesend zu machen, sondern auch, um es abwesend sein zu lassen. Immer wieder muß gesagt werden, daß über etwas zu sprechen, was nicht wahrgenommen wird und gegeben ist, die eigentliche geistige Leistung ausmacht (Blumenberg, Unbegrifflichkeit, 76).

Nach dieser Bedingung steht es um die Definierbarkeit von ‚Heimat’ nicht gut.  Fast müßte man, dieser Überlegung folgend, sagen, Heimat sei geistlos. Denn was immer sie ist, ein wesentliches Merkmal von Heimat ist Zustimmung; auf jeden Fall ist sie das Gegenteil von Abwesenheit, sie ist Anwesenheit; Anwesenheit in ihrer intensivsten Weise; sie ist geradezu der Inbegriff dessen, was sich von allem am schwierigsten distanzieren lässt. Denn als Anwesenheit bestimmt Heimat die Ursituation jedes neuen Lebens: die Situation, in die es hineingeboren wird. Heimat ist zuerst und vor allem sonst das, was dort schon da ist, wo unsere Existenz begonnen hat. Weil jeder sie damit in sich trägt, und sie mit sich nimmt, wohin immer er geht, ist Heimat fast nicht loszuwerden, und beinahe unverlierbar.

So hat jeder eine Heimat von Geburt; aber niemand besitzt sie durch Geburt.

Hier geboren sein hieß nicht, man war hier geborgen, lautet eine Zeile in Durs Grünbeins jüngstem Gedicht auf seine Dresdener Kindheit, >Russischer Sektor< (Grünbein, Strophen, 10). Damit der Ort der Geburt Ort der Heimat auch sein kann, muß eine doppelte Verneinung sich erfüllen: Heimat kann nur ein Ort sein, an dem man nicht nicht an seinem Ort ist. Das aber kann überall sein, sogar dort, wo man zur Welt kam.

Die poetische Genauigkeit, mit der der Lyriker auf den Ort seiner Herkunft, ihn am inneren Seelenort von Heimatlichkeit messend, zurückschaut, gibt das Moment zu erkennen, das die Heimat mit der


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Utopie verbindet, sich desto mehr zu verflüchtigen, je konkreter sie bestimmt sein will. Es ist nicht jene Klarheit der Dinge, die sie zur Vertrautheit befähigt, worin Heimatlichkeit liegt; sie entsteht vielmehr in einem ebenso starken, wie kaum benennbaren Daseinsgefühl: sie geht hervor aus dem Empfinden eines Einverständnisses mit sich selbst und der Welt, als Kennzeichen des Ortes, an dem man lebt. Wo dieses Empfinden sich einstellt, ist Heimat gegenwärtig, wo auch immer es sein mag.

Für den großbürgerlichen Weltmann Adorno war es nicht die Vaterstadt Frankfurt, sondern das Odenwaldstädtchen Amorbach. Den Erinnerungen an die glücklich dort verlebten Sommerfrischen seiner Kindheit hat er nicht nur im Alter seinen schönsten Text gewidmet; sie prägten ihm jenes Weltvertrauen ein, das ihm durch die Bedrängnisse des Lebens und die Versehrungen der Emigration hindurch ermöglichen sollte, sich selbst zu bewahren. Der Unterschied zwischen Amorbach und Paris ist geringer als der zwischen Paris und New York. Jene Amorbacher Dämmerung jedoch, da ich als kleines Kind von einer Bank auf der halben Höhe des Wolkmann zu sehen glaubte, wie gleichzeitig in allen Häusern das soeben eingeführte elektrische Licht aufblitzte, nahm jeden Schock vorweg, der nachmals dem Vertriebenen in Amerika widerfuhr. So gut hatte mein Städtchen mich behütet, dass es mich auf das ihm gänzlich Entgegengesetzte vorbereitete (Adorno, Amorbach, 22).

Die Eindrücke der Kindheit stecken den Rahmen ab, innerhalb dessen der Erwachsene seine Welterfahrungen machen wird. Dem Kind ist selbstverständlich, dass, was es an seinem Lieblingsstädtchen entzückt, nur dort, ganz allein und nirgends sonst zu finden sei; es irrt, aber sein Irrtum stiftet das Modell für Erfahrung (a.a.O.). So entsteht in der kindlichen Erfahrung des engeren Heimatkreises das Modell der Welt. Heimat verspricht dem Kind die Welt; die Erfahrung der Welt wird es darüber belehren, ob das Versprechen trog, oder trägt.

Am stärksten gründet dieses erste Daseinsgefühl der Einverständigkeit in dem System vitaler Sicherheiten, das Heimat bildet. Denn sie bietet jedem Individuum, was es braucht, um als Gattungswesen existieren zu können. Heimat ist Sicherheit, schrieb Jean Améry 1966 in seiner grundlegenden Studie >Wieviel Heimat braucht der Mensch?< (Améry, 82 f.). In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen: Da wir sie kennen, erkennen wir sie und getrauen uns zu sprechen und zu handeln, weil wir in unsere Kenntnis-Erkenntnis begründetes Vertrauen haben dürfen. Das ganze Feld der verwandten Wörter treu, trauen, Zutrauen, anvertrauen, vertraulich, zutraulich gehört in den weiteren psychologischen Bereich des Sich-sicher-Fühlens. Sicher aber fühlt man sich dort, wo nichts Ungefähres zu erwarten, nichts ganz und gar Fremdes zu fürchten ist. In der Heimat leben heißt, daß sich vor uns das schon Bekannte in geringfügigen Varianten wieder und wieder ereignet. Das kann zur Verödung und zum geistigen Verwelken im Provinzialismus führen, wenn man nur die Heimat kennt und sonst nichts. Hat man aber keine Heimat, verfällt man der Ordnungslosigkeit, Verstörung, Zerfahrenheit.

Wer seine Lebensführung ihrem Gefüge der Traditionen und Bräuche anvertraut, wird zum Bestandteil einer elementaren Struktur der Lebensermöglichung. Insofern bildet Heimat mit ihrem kollektiven Gedächtnis, das als unbewußt nutzbarer Speicher der elementaren Fertigkeiten des Überlebens fungiert, das Grundgerüst der Kultur.

Diese Gewährleistung aber hat ihren Preis. In ihren Genuß kommt nur, wer sich dem obersten Gebot unterwirft, aus dem alle Regeln heimatlicher Lebensform sich ableiten: Sei wie alle ! Vor allem aber: Bleib dort, woher du stammst.

Ich bin sehr für Leute, welche reisen, um ihr Vaterland schätzenzulernen. Vielleicht stirbt man leichter in der Fremde, weil der Tod einem verlassenen Herzen lieb ist. Leben aber muß man, wo man geboren wurde, schrieb 1774 Theodor Gottlieb von Hippel, Bürgermeister Königsbergs, Schüler und Freund Kants, in einem Traktat >Über die Ehe< (Hippel, Ehe, 100), und noch für Gottfried Benn bedeutet Heimat ganz selbstverständlich Herkunft, wenn er hundertfünfzig Jahre später schreibt: da ich auf dem Land und bei den Herden großwurde, weiß ich auch noch, was Heimat ist (Benn, Antwort, 1702).

Dahinter steht das bis heute vorherrschend gebliebene mitteleuropäisch-kleinbürgerliche Modell der Lebens- als Familiengeschichte. Nach ihm ist in strengster Genealogie Heimat dort, wo man geboren wurde und seine Kindheit verbrachte; dort, wo die Vorfahren begraben sind, und die Nachkommen einen begraben werden; dort, wo man in die Kette der Fortzeugungen unmittelbar eingereiht ist.

Gegen den Anspruch auf ein unverwechselbar eigenes Dasein ist das kollektive Lebensgefühl der Heimat jedoch tief mißtrauisch, und jene Lust nach der Fremde, von der Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen schwärmen ließ (Novalis, Ofterdingen, 18), ist ihr vollkommen fremd. Untrüglicher Instinkt sagt ihr: Wer nicht sein will, wie alle, gefährdet durch Vernachlässigung des Gemeinsamen die Grundlagen eines Lebens durch Gemeinschaft.

Daraus bezieht die Lebensform der Heimat ihren Standardlebenslauf möglichst identischer Wiederholung. Ihr Urgebot lautet: sei noch einmal, was deine Vorfahren waren. Daraus entstehen die von Gottfried Benn schaudernd so genannten ‚Ahnenverhängnisse’ unablässig wieder und wieder entstehen, wie Geno Hartlaub sie in bedrückender Anschaulichkeit beschrieben hat. Was gehen sie mich an, diese Ahnen aus dem Pfarrhaus, aus der Anwaltskanzlei, dem Kaufmannskontor, dem verfallenden Schloß der Provinzstadt? Was soll ich tun mit den Bildern und Miniaturen von puppenhaft starren Damen und Herren mit milchweißer Haut, Porzellanaugen und Einheitslächeln? Sie könnten ebenso gut einen anderen Namen tragen, die guten Bürger mit ihren heimlichen Lastern, dem heuchlerischen Lebenswandel zwischen Haushalt, Kindbett, Kirche und Kontor, Kurbad und Bildungsreise in den Süden. Hundertmal der gleiche Lebenslauf, zwischendrin ein paar, die nicht mitmachen: Außenseiter, Krüppel, Junggesellen, Stiftsdamen, unverheiratete Tanten, Kuckuckseier, die falsche Namen tragen. Die öde Eintönigkeit des Immergleichen dieser Naturgeschichte des Gesellschaftslebens muß geradezu den Wunsch eingeben, die Kette der Generationen abzubrechen.

Wer dagegen Neigung zum Individualismus zeigt, und es darauf anlegt, der Besondere auch zu werden, der er nach Begabung und Neigung sein kann, hat sich beinahe schon als untauglich zu heimatlicher Gemeinschaft erwiesen. Er wird sich eines Tages entscheiden müssen: für die Sicherheit stiftende Regel der Wiederholung eines Lebens, das sich in ihm fortsetzen soll, oder die von Unsicherheit begleitete Regel des Neubeginnens eines freien Selbstseins. Die Entscheidung fällt auf der Trennlinie zwischen Heimat und Welt.

Insofern bezeichnet das Problem der Heimat die Rückseite des Problems der modernen Gesellschaft, die eine Gemeinschaft aus Individuen sein soll. Wenn Gesellschaft die Gemeinschaft von Einzelnen ist, in der alle sich von allen unterscheiden, muß sie den Rückhalt dessen einbüßen, was für alle gilt, weil sie Angehörige einer Gemeinschaft sind.

Gerade, wer für sich selbst und sein eigenes Leben den Anspruch eines ausgeprägten Eigenseins erhebt, sollte nicht verkennen, daß der Widerstand, dem er sich damit aussetzt, nichts anderes ist als die andere Seite der Gewährleistung, überhaupt sein zu können.


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Deshalb ist es von zwingender Folgerichtigkeit, daß die Romantik, die das Individuum entdeckt, gleichzeitig die Heimat entdeckt. In der Wanderschaft denkt sie beide zusammen. Mit ihrem Bild beginnt einer der ersten Künstler- Romane unserer Literatur, Ludwig Tiecks >Franz Sternbalds Wanderungen< (1798).

Meine Wanderung bringt oft sonderbare Stimmungen in mir hervor. Jetzt bin ich in einem Dorfe und sehe den Nebel auf den fernen Bergen liegen, matte Schimmer bewegen sich im Dunste, und Wald und Berg tritt aus dem Schleier oft plötzlich hervor. Ich sehe Wanderer zu Fuß und zu Pferde ihre Straße forteilen, und ferne Türme und Städte sind das Ziel, wonach sie in mannigfaltiger Richtung streben. Ich befinde mich mit unter diesem Haufen, und die übrigen wissen nichts von mir, sie gehen mir vorüber, und ich kenne sie nicht, jeder unsichtbare Geist wird von einem andern Interesse beherrscht, und jeder beneidet und bemitleidet auf Geratewohl den andern. Ich denke mir alle die mannigfaltigen Wege, durch Wälder, über Berge, an Strömen vorüber: wie jeder Reisende sich umsieht und in des andern Heimat sich in der Fremde fühlt (Tieck, Sternbald, 95).

Es gibt keinen Ort der Welt - sofern er bewohnt oder von Menschen bewohnbar ist - , der nicht für irgendjemanden Heimat sein kann, und nicht für irgendwen Fremde. Umgekehrt: Heimat ist zwar überall möglich, aber nicht überall wirklich: wirklich ist Heimat immer an einem Ort, der für denjenigen, für den er Heimat ausmacht, dieser eine, bestimmte Ort ist, der sich vor allen anderen Orten der Welt gerade durch diese Besonderheit auszeichnet, Heimat zu sein: kein beliebiger Ort, sondern der Ort für dieses Dasein.

Deshalb wird die stärkste Erfahrung von Heimat in ihrem Verlust gemacht. Für sie gilt nicht weniger, sondern am eindrücklichsten, was für alle Werte, Bedeutungen und Besitzungen gilt, daß erst ihre Entbehrung mit ihnen genau bekannt macht. Solange man sie hat, kennt man sie nicht; hat man sie nicht mehr, lernt man sie kennen, und oft auch erst schätzen. Denn alles, worüber sich uneingeschränkt und mühelos verfügen läßt, unterliegt einer fatalen unwillkürlichen Tendenz, gering geachtet zu werden.

‚Heimat’ ist also ein Unbestimmtes, solange sie besessen wird, ausgezeichnet durch eine eigentümliche Abwesenheit, deren Hervortreten in tatsächlicher Abwesenheit sie erst in ihrem Wesen erfahrbar macht.

„Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat besitzen“.

Mit diesem Satz beginnt das bedeutendste Werk deutscher Heimatliteratur, Theodor Fontanes


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>Wanderungen durch die Mark Brandenburg<, deren erster Band erstmals 1862 erschien. Das habe ich an mir selber erfahren und die ersten Anregungen zu diesen „Wanderungen durch die Mark“ sind mir auf Streifereien in der Fremde gekommen (Fontane, Wanderungen, I, 5). Ausschlaggebend waren die Eindrücke einer der wenigen Fernreisen gewesen, die Fontane machte, in die schottische(n) Grafschaft Konroß, deren schönster Punkt der Levensee ist. Doch nicht die schottische Gegenwart wird dem Reisenden eindrücklich, sondern das, woran der Besuch des historischen Ortes ihn erinnert: an das Bild des Rheinsberger Schlosses, das, wie eine Fata Morgana, über den Levensee hinzog. Was ihm diesen Tag zu einem unvergessenen Tag machte, weiß Fontane genau zu bezeichnen: Erinnerungen aus der Heimat.

Ihre Kenntnis eröffnet sich erst fern der Heimat. Nur dort, wo wir nicht zu Hause sind, nur, wenn wir nicht dort sind, woher wir kommen, erleben wir, was dieses abwesende ‚Dort’, woher wir an einen fremden Ort gerieten, für uns bedeutet. Was das ‚Hier’ der Heimat ausmacht, geht erst im ‚Dort’ der Fremde auf: als Erinnerung an das, was in der Selbstverständlichkeit seiner Gegenwart unbemerkt bleiben muß.

Fast noch wichtiger als dieses unerlässliche Moment der Ferne aber ist das andere von Fontane hervorgekehrte: die Erinnerung - Heimat ist nicht, worin wir leben, sondern, woran wir uns erinnern. Mehr noch: woran wir uns erinnern müssen, ohne dass wir wüßten, daß es sich dabei um Erinnerung handelt, weil Heimat das kollektive Gedächtnis ist, der gesellschaftliche Speicher aller Urfertigkeiten, derer wir als Menschen zur Aufrechterhaltung unserer Lebensfähigkeit bedürfen. In seiner Heimat kann niemand aus Unkenntnis des Lebens zugrundegehen: sie weiß immer schon für ihn und alle Menschen, die sie hervorbringt, was jeder wissen muß, und hält es für ihn bereit.

Als Gehalt gebundener Erinnerung von uns auf allen Wegen mitgeführt, verdichtet Heimaterfahrung sich in den geweckten Erinnerungen, indem sie in einen Zustand einverständiger Weltverbundenheit versetzen. Denn dieses Welteinverständnis ist eben der Gehalt der Erinnerung: wir erinnern uns nicht so sehr an Vergangenes, als an die damit verbundenen Empfindungen eines momentan glückenden Lebens. Deshalb neigt Erinnerung zu Verklärung.

Heimat enthalten diese Empfindungen, wenn sie so geartet sind, daß wir in Übereinstimmung mit uns selbst und dem Leben in unserem Weltausschnitt an der Tatsache des Geborenwordenseins nichts zu rechtfertigen finden. Heimat ist das Empfinden einer elementaren Zustimmung zu dem einzigen Faktum unserer Existenz, das vollkommen unbeeinflußbar ist: dass es uns überhaupt gibt. Denn wir sind ihre Produkte. Heimat ist die Summe alles dessen, was zusammenkam, um uns hervorzubringen.

Eine Heimat also hat jeder; sie erfahren aber kann nur, wer Bekanntschaft mit der Fremde machte. Denn die Fremde ist die Erfahrungsstimmung, in der die Welt in ihrem Urverhältnis zum Menschen erlebt wird.

Das führt auf das eigentliche Verhältnis von Heimat und Welt, das sich als umgekehrt zu der Gewißheit erweist, in der es gewöhnlich in den Vertrautheiten unangefochtener Heimatlichkeit erlebt wird.

Denn der Bezug zur Herkunft, der am engsten mit Heimat verbunden scheint, ist mit deren Gegenpol, der Fremde, enger verknüpft, als angenommen. Am gefährdetsten ist, wem ein durch Herkunft angestammter Ort zugleich die Welt ist. Je weniger heimatgebunden einer ist, desto weltfähiger; je weltgebundener einer ist, desto heimatfähiger wird er sein.  Weltfähigkeit macht ortsunabhängig. Wer Heimat haben will, muß sich in der Welt verankert haben.

Das ist ihr Paradox: man muß sie aufgeben, um sie zu gewinnen; sie hinter sich lassen, um in ihr anzukommen.

Sich in der Welt verankern heißt, dem eigenen Leben mit Bewußtsein jene Gemeinschaft mit anderen zu verleihen, ohne die ein Menschenleben nicht möglich ist, wie Albert Camus es - in einer Rede über den >Künstler und seine Zeit< anlässlich der Verleihung des Nobelpreises im Dezember 1957 in Uppsala – beschrieb.  Meer, Regen, Bedürfnis, Verlangen, Kampf gegen den Tod, das sind die Dinge, die uns alle verbinden. Wir gleichen uns in dem, was wir zusammen sehen, in dem, was wir zusammen leiden. Die Träume ändern sich mit den Menschen, aber die Wirklichkeit der Welt ist unsere gemeinsame Heimat (Camus, Künstler, 278). Heimat gibt es, wenn es gemeinsame Welt gibt; erfahrbar wird sie, wenn das anthropologisch Gemeinsame des Menschseins lebenskonkret wird: indem ein ‚Wir’ entsteht, dessen Eigenart in Rückblicken geteilter Nostalgien hervortritt, wenn ihre Wirklichkeit selbst sich längst wieder aufgelöst haben wird: Heimat hat, wer die Gemeinsamkeiten an Traditionen und Bräuchen in den Assoziationsketten und Anekdoten des ‚Wißt ihr noch’ in vertrauter Runde vergegenwärtigend heraufbeschwören kann.

Man kommt nicht durch Heimat zur Welt, sondern umgekehrt durch Welt zur Heimat. Nur deshalb ist es möglich, den Verlust von Heimat als Realkomplex individueller Daseinsbedingungen zu überleben. Wer Welt hat, kann Heimat entbehren, weil er anderswo eine andere finden kann.

Davor aber steht eine der schwierigsten Erfahrungen, denen wir ausgesetzt sein können, die Erfahrung der Fremde. Sie ist darum so einschneidend und verstörend, wenn sie nicht auf der Freiwilligkeit etwa einer touristischen Reise beruht, weil sie für den, der sie macht, die Ursituation des Menschen wiederherstellt: die Weltfremde – jene - noch einmal mit Benn zu sprechen -  tiefe, schrankenlose, mythenalte Fremdheit (...) zwischen dem Menschen und der Welt (Benn, Epilog, 1875).

Die Fremde macht Heimat nicht nur erlebbar und verständlich; sie macht sie vor allem notwendig, indem sie zugleich die Gattungserinnerung an diese Urfremdheit aktiviert. Die Fremde selbst nämlich ist jene Ursprünglichkeit, als welche die Heimattümelei Heimat nur ausgibt. Heimat ist als Lebensphänomen anthropologisch das Sekundäre: für ein Menschenleben zwar notwendig, ist sie dennoch ein Phänomen der Reaktion: mit ihrer Einrichtung reagiert das Menschsein auf die Urbedingung seines Daseins in der Welt. Diese aber macht sich in der Erfahrung der Fremde bemerkbar.

Die Zeugnisse dieser Urerfahrung, die den basso continuo des europäischen Kulturbewußtseins seit mehr als zweitausend Jahren bilden, belegen, wie tief sie in das kollektive Unbewußte als Spur einer Urbedürftigkeit des Menschseins eingeprägt ist. Die bestürzende Entdeckung am Beginn der Neuzeit, daß die Welt nicht für den Menschen gemacht ist (Blumenberg, Neuzeit, 483), unterwarf alle Erkenntnis dem Impuls, die entrückte Welt zu vermenschlichen und sie mit allem auszustatten, das sie dem Menschsein nicht von sich aus bietet.

Das Problem möglicher Heimat ist eine Facette des grundlegenderen Problems möglicher Welt. Es stellt sich für das Gattungswesen des Menschen mit jedem Exemplar aufs neue, weil Menschen die einzigen Lebewesen sind, die auf ihr Dasein in der Welt mangelhaft vorbereitet sind: die Welt hat uns nicht vorgesehen; als das ‚Mängelwesen’ schlechthin läßt sie uns nur als eine ihrer Seinsmöglichkeiten zu. Ob und wie wir sind, ist auf Dauer ausschließlich Sache unseres Gattungsinteresses.

Als Einrichtung der menschenneutralen und ursprünglich -feindlichen Welt zu ihrer Bewohnbarkeit, zum Medium unseres Daseins, ist Kultur deshalb stets gefährdet. Es gibt sie nicht ein für allemal. Sie kann immer wieder verloren gehen. Weniges hat das in unserer Zeit so unbezweifelbar gemacht wie gerade die Massenerfahrung des Heimatverlustes in der Epoche der Weltkriege als unmittelbare Folge der Gewaltpolitik.

Die Heimatlosigkeit wird ein Weltschicksal, hatte der um große und größte Perspektiven nie verlegene Martin Heidegger 1946 in seinem berüchtigten >Brief über den Humanismus< der beginnenden Nach-Weltkriegsepoche die vorauseilende Diagnose gestellt (27; NA 30).

Die Heimatlosigkeit wird unbehebbar, zum ‚Schicksal’, wenn sie eine Erscheinungsform der Weltlosigkeit ist. Das Problem der Heimat ist ein Problem des Weltbezuges, ein Problem der eigenen Weltverträglichkeit. Nur wer in die Welt, in die er geboren wurde, paßt, sich in sie fügt, kann Heimat haben. Darin ist das tiefste Unglück jeder Emigration, jeder Vertreibung angelegt, mit dem Ort, den man verlassen muß,  auch die Welt zu verlieren, und sie dort, wohin man verschlagen wird, nicht wiederzufinden. Das widerfährt besonders dem Vertriebenen, der nur seine Heimat kannte, und sie für die Welt hielt.

Nach den Schrecken der neueren Geschichte garantiert die Heimat nicht mehr die Welt, da niemand mehr sicher sein kann, seine eigene Heimat nicht zu verlieren. So wenig ist die zugeborene Heimat mehr Weltgarantie, daß die Welt  nun umgekehrt zur Zuflucht notwendiger Heimat wird.

So wird der Begriff der Heimat anthropologisch faßbar als Inbegriff für eine Erfahrung, in der sich in einem einzelnen Menschen die Fähigkeit des Menschen als bewährt erweist, das elementare Defizit des Menschseins in der Welt wenigstens zu überbrücken, wenn nicht zu beheben. Da die Weltbedingungen unseres Daseins aber diejenigen sind, auf die es den geringsten Einfluß hat, verharrt die Erfüllung dieser Aufgabe, die Kultur ist, in einem Zustand dauerhafter Vorläufigkeit.

Versteht man Heimat als Begriff dieser unablässig vorläufigen Leistung, so bezeichnet sie etwas, das es zwar immer schon gibt, weil es ohne dieses Menschenleben nicht gäbe, das aber dennoch immer bevorsteht, weil das Urproblem nicht bewältigt werden kann.

Es war diese Einsicht, die Ernst Bloch dazu bewog, ‚Heimat’ zum - buchstäblich - letzten Wort seines monumentalen, in der amerikanischen Emigration in New York zwischen 1938 und 1947 geschriebenen,  Hauptwerks >Das Prinzip Hoffnung< zu machen, und diese andauernde Vorläufigkeit aller Menschenleistungen diesem Geschichtsentwurf ihrer möglichen Verbesserung zugrundezulegen.

Mit diesem Blick also gilt: Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes


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steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat (Bloch, Hoffnung, Bd. 3, 1628).

Sie wäre die wirkliche Erfüllung der Hoffnung. Wo Heimat wäre, bliebe zu hoffen nichts übrig. Eine Menschheit jedoch, die sich die Hoffnung zum Prinzip ihres Weiterlebens wählen muß, ist noch heimatlos.

Heimat, wie wir sie erst kennen, gibt wenig zu hoffen; aber sie bewahrt vor vielem, das Hoffnung immer wieder notwendig macht. Mit ihr läßt sich nur schlecht leben; ohne sie aber fast gar nicht.

Dieses Paradox begleitet jedes neu geborene Menschenleben. Man muß Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben, hatte Jean Améry die unsere Epoche bestimmende Erfahrung des aus der Gemeinschaft der Menschen Verstoßenen gekennzeichnet (Améry, 81); in ihr ist zu äußerster Konsequenz verdichtet, was sich anthropologisch immer wieder als elementare Bedingung des Menschseins erweist: sich der Fremde aussetzen zu müssen, um sich gegen die ursprüngliche Weltfremde behaupten zu können.

Diese aber stellt sich immer dann wieder her, wenn menschliche Handlungen Fremdheit zwischen Menschen setzen. Dann entsteht jene Verlassenheit, die Hannah Arendt als den anthropologischen Grund jedes politischen Systems der Unfreiheit beschrieb: wenn aus gleich welchen personalen Gründen ein Mensch aus dieser Welt hinausgestoßen wird oder wenn aus gleich welchen geschichtlich-politischen Gründen diese gemeinsam bewohnte Welt auseinanderbricht und die miteinander verbundenen Menschen plötzlich auf sich selbst zurückwirft (Arendt, Ursprung, 697 f.). Der Verlassene ist wieder der Mensch im Urzustand jener Gleichgültigkeit der Welt, gegen die die ganze Menschheitsgeschichte aufgeboten werden mußte, um sie aus den Unmittelbarkeiten des zivilisierten Lebens zu verbannen, wie es uns noch einmal zur Selbstverständlichkeit geworden ist.

Als Selbsterfüllung des Menschseins gegen die Gleichgültigkeit der Welt wäre es das Kennzeichen verwirklichter Heimat, weder den Fremden, noch die Fremde mehr zu kennen, in denen die Verlassenheit unablässig lauert - : so bleibt sie der utopische Horizont der Kultur als der unablässigen Verwandlung der Welt zur Stätte der Menschenmöglichkeit.

Nachbemerkung

Heimat und Kunst – ihre Beziehungen sind von Haus aus keine besonders guten. Eher sogar richtig schlechte. Beider Verbindung zur  ‚Heimatkunst’ gilt als höchst suspekt, und ist der Hochkultur ein Graus: verachtet als trivial, verlogen, dumpf und schönfärberisch. Noch immer lauert darin das Schreckbild all der Luis Trenker, die enthusiastisch von ihren Bergen brabbeln, in einem Dialekt, der schon in der Nachbarregion kaum noch verstanden wird.

Um den letzten Kredit brachte Begriff und Sache auf lange Zeit die politische Hypothek einer fragwürdigen Heimatpolitik verschiedenster Vertriebenenverbände, deren provokante Aufzüge in jährlicher Regelmäßigkeit pünktlich lästig fielen wie die übliche Frühjahrsgrippe. Die aktuellen Debatten um ein ‚Zentrum für Vertreibung’ erinnern daran nicht nur von Ferne. Eine Entschärfung derartiger politischer Brisanzen trat erst ein, als die Vereinten Nationen 1995 für alle Welt ein ‚Recht auf Heimat’ proklamierten.

Der junge Martin Walser, behutsamer Avantgardist der jungen Bundesrepublik, traf nicht auf Begeisterung, als er 1968 einer Sammlung von Aufsätzen den Titel >Heimatkunde< gab, die auch tatsächlich von seiner eigenen Bodensee-Bodenständigkeit handelten, ganz ohne distanzierende Ironie, sachlich und ehrlich, andeutungsweise ironisch nur in Seitenhieben gegen diejenigen, die darin prompt die Ironie vermissen würden. Für einen Band in der ‚linken’ edition suhrkamp war das ungewöhnlich, fast ein faux pas. Aber es war stimmig: schließlich sind Walsers frühe Romane, bei aller Anverwandlung literarischer Avantgarden, Heimatliteratur.

Dieses kulturelle Ungemach mit der Heimat änderte sich erst, als 1985 Edgar Reitz’ Fernsehserie >Heimat< die Nation an sieben Abenden vor den Fernsehern versammelte, wir uns alle in Gudrun Landgrebe verliebten, und die Leitfeuilletons voll der begeisterten Kritik waren. Sie bildete das ersehnte Gegenstück zu jenem anderen medialen Großereignis, das sechs Jahre vorher ein Stück bundesrepublikanischer Nationsbildung nachholte, als die Ausstrahlung der amerikanischen Fernsehserie >Holocaust< das Land in Fassungslosigkeit vereinte, als erführe man zum ersten Mal von den Ungeheuerlichkeiten der Shoah, was für viele Jüngere erschreckenderweise tatsächlich der Fall war, wie sich bei der Gelegenheit herausstellen sollte. Seitdem gehört ‚Betroffenheit’ zum Kernbestand unserer korrekten politischen Kultur.

Wer sich heute mit Heimat befaßt, kann das ungleich entspannter tun, wenn auch nicht ganz ohne den einen oder anderen Fallstrick.

Thomas Henke hat es auf seine eigene Art getan. Und von heute ab hat seine Film-Meditation zum Thema eine dauernde Heimstatt in diesem Museum. Womit bereits ein wesentlicher Aspekt in der Sache berührt ist: Heimat ist dort, wo einer mit dem, was er kann, als einer ‚von uns’ wahrgenommen wird: wo Anerkennung durch Zugehörigkeit erworben werden kann.

In Philip Roths soeben auf Deutsch erschienenem Roman >Exit< - der ihm nun den Nobelpreis endlich eintragen muß – heißt es: Man verläßt einen Ort, während andere – wenig verwunderlich – dort bleiben und weiterhin tun, was sie immer getan haben. Und wenn man zurückkehrt, ist man überrascht und für einen Augenblick ganz aufgeregt, wenn man sieht, daß sie noch immer da sind, und auch beruhigt, weil es jemanden gibt, der sein ganzes Leben an einem Ort verbringt und nicht den Wunsch hat, von dort fortzugehen.

Das beschreibt nicht nur Thomas Henkes eigenen Weg genau, sondern auch die Grundbewegung seines Film-Essays.

In einem Begleittext, der im Katalog erscheint, habe ich wesentliche Bezüge zwischen dem Film und Überlegungen hergestellt, wie sie in der philosophischen Tradition angelegt sind. In aphoristischer Verknappung sind diese Gedanken Bestandteil der Installation. (Zu meiner großen Freude, denn welcher lebende Philosoph bringt es schon zu Museumswürden; dafür Dank an den Künstler und das Haus.)


© Andreas Steffens - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008

Seit dem 7. März zeigt das Wolfgang-Bonhage-Museum Korbach, Kirchplatz 4, 34497 Korbach,
Tel. 05631/53289, www.museum-korbach.de
die Videoinstallation „erinnere dich jetzt“ des in Korbach geborenen Medienkünstlers Thomas Henke. 

Beschrieben wird mit eindringlichen, poetischen Bildern die Rückkehr einer fiktiven Person an den Ort ihrer Geburt. Der Experimentalfilm erzählt in oftmals traumhaft anmutenden Sequenzen von der schicksalhaften Auseinandersetzung des Protagonisten mit sich selbst. Hineingezogen in einen Strudel aus Erinnerungen kommt es in den Kellergewölben seines Elternhauses zu einer Begegnung: Joseph F. trifft auf seinen Doppelgänger, der während seiner Abwesenheit die ganze Zeit für ihn dort gewesen ist.

Es ist der filmkünstlerische Versuch einer Annäherung, die Antworten offen und Interpretationen zulässt, ja sie geradezu herausfordert. Als Teil der Dauerausstellung gewinnt die Installation einen besonderen Rang. Das Museum Korbach wagt mit diesem Konzept als stadtgeschichtliches Museum ein Experiment, das kein Vorbild kennt.

Lesen (oder hören) sie zum Thema auch: Die Grandauers und ihre Zeit

Redaktion: Frank Becker