Die Augen des Nuba (2)

Erzählung

von Wolf Christian von Wedel Parlow

Die Augen des Nuba (2)
 
       Der schweigsame Alte ließ Rick während des Interviews nicht aus den Augen. Es war kein feindseliger Blick, eher ein mitfühlender. Da war so ein einsamer Europäer hierhergekommen, um herauszufinden, wie sie hier lebten. Er wolle ein Buch über sie schreiben und damit Professor werden, hatte el Doma erklärt. Bitteschön, wir helfen gern. So ein Vorhaben war doch allemal friedlicher, als was die Regierung mit uns angestellt hat, vor Jahren. Hatte uns aus unseren Dörfern geholt oben in den Bergen. Ja, auch dort oben war das Leben nicht einfach, gewiss. Auch dort oben reichte es manchmal nicht für alle, was wir aus den kleinen Feldern herausholten. Dann gingen einige der Jüngeren auf Wanderschaft, um sich woanders eine Bleibe zu suchen. Das war so Sitte. Man hielt die Verbindung, besuchte sich nach der Erntezeit. Das war die Zeit der Wettkämpfe zwischen den Dörfern mit Körperbemalung und Tanz und Musik und Krügen voll Bier. Er werde traurig, sagten die Augen, wenn er an die Zeit in den Bergen zurückdenke und an den Moment, als die Soldaten kamen und sie hinunterjagten in die Ebene. Das waren keine Türken, das waren auch keine Engländer. Es waren Soldaten der eigenen Regierung. Wir sollten Baumwolle anbauen für die neue Fabrik in Kadugli. Die Fabrik war ein Geschenk, ein Geschenk Europas. Ja, so großzügig kann Europa sein, schickt Geld, Maschinen und Männer, die sich auskennen mit den Maschinen. Viele von uns fanden dort Arbeit, wurden angelernt von den Männern aus Europa. Wer hier blieb, baute mit an dem neuen Dorf, lernte Baumwolle pflanzen und ernten, erhielt Geld für die Ernte. Eine neue Zeit, eine Zeit voller Hoffnung. Ja, ein gutes Geschenk, sagten wir, das uns da Europa gemacht hat. Aber wir mußten auch ein neues Wort lernen: „Wettbewerb“. Wir kannten das Wort noch nicht. Man erklärte uns, das sei wie der Wettkampf, den wir früher zwischen den Dörfern austrugen, mit der Bemalung unserer Körper, mit Ringkämpfen, mit Musik und mit Tanz. Welches Dorf ist das beste? Welches Dorf hat die besten Ringer? Welches Dorf tanzt am schönsten? Welches Dorf macht die schönste Musik? So sei es auch mit dem Wettbewerb, sagte man uns. Die Baumwollfabrik in Kadugli stehe im Wettbewerb mit der ganzen Welt. Welche Fabrik stelle das billigste Tuch her, sei die Frage. Natürlich solle das Tuch auch schön sein und haltbar. Aber der Preis sei doch das wichtigste. Denn die Leute hätten wenig Geld und kauften lieber das billigere Tuch. Der Wettbewerb war unser Fluch. Denn schon bald hieß es, unsere Leute in Kadugli blieben auf ihrem Tuch sitzen. Chinesisches Tuch sei viel billiger. Und die Leute wollten nur noch chinesisches Tuch. Man konnte das verstehen, die Leute hatten wenig Geld. In Kadugli hieß es, sie hätten die Regierung in Khartum beschworen, sie möchte verhindern, daß weiterhin das billige Tuch aus China ins Land käme. Sonst müssten sie die Fabrik schließen, und Hunderte verlören ihre Arbeit. Die Regierung antwortete, das dürfe sie nicht. Europa verlange, daß unser Tuch ebenso billig hergestellt werde wie das chinesische, am besten noch billiger. Europa habe auch ein Wort dafür: Wir müssten „wettbewerbsfähig“ werden. Das sei die Bedingung für das Geschenk, das uns Europa gemacht habe. Wir sollten halt die Löhne senken. Dann könnten wir das Tuch billiger anbieten. Aber wovon sollten unsere Frauen und Kinder denn leben, wenn wir die Löhne noch weiter senkten? Schon jetzt könnten sie ja kaum davon leben. Dann kam das Ende. Die Fabrik mußte schließen. Unsere Leute zogen nach Khartum, um dort Arbeit zu finden. Manche seien schon weiter gezogen bis nach Ägypten.
       War es Trauer, was Rick in den Augen des Nuba sah, oder eher Hohn? Hohn über die gut gemeinte Hilfe Europas. Rick hatte plötzlich Zweifel, ob sein Forschungsvorhaben die richtigen Fragen stellte. Aber jetzt alles umwerfen? Alles aufgeben? Die ganze Arbeit, die er in die Vorbereitung gesteckt hatte? Alles umsonst? Nein, das kam nicht in Frage. Er mußte das jetzt durchziehen. Die Kollegen erwarteten das. Durchaus tragfähig hatten sie sein Vorhaben genannt. Das war bestimmt nicht so dahin gesagt, aus purer Freundlichkeit etwa, weil man einem Kollegen nicht allzu kritisch kommen will. Der könnte ja irgendwann zurückkeilen.
Adam war inzwischen bei der Frage angelangt, wie sich die vier Handpumpen, über die das Dorf seit drei Jahren verfüge, auf die Lebensbedingungen im Dorf ausgewirkt hätten. Er verbesserte sich gleich. Denn Ricks Formulierung kam ihm wohl etwas geschraubt vor. Die Alten wirkten in der Tat etwas verdutzt. „Ist euer Leben leichter geworden, seit ihr die Handpumpen habt“, übersetzte er, was Rick sich am Schreibtisch ausgedacht hatte, und hoffte, damit etwas verständlicher geworden zu sein.
       Wieder beratschlagten die drei Alten, wie sie auf die Frage reagieren sollten. Sie wollten ja nicht undankbar erscheinen, indem sie die Frage einfach verneinten. Die Handpumpen waren schließlich ein Geschenk. Unicef hatte das Geld gegeben, eine Weltorganisation. Da müssten sie eigentlich auf die Knie fallen vor Dankbarkeit.
       Die Jungen gingen in die Hocke, um jedes einzelne Wort mitzukriegen. Denn mit den Pumpen kannten sie sich aus. Wenn die Mutter sie losschickte mit dem leeren Kanister, setzten sie sich erst mal im Kreis um die Pumpe und warteten, bis sie drankamen. Und wehe, wenn die Pumpe ausfiel, bevor sie ihren Kanister gefüllt hatten. Das kam nämlich vor.
       Auch die Alten redeten jetzt davon. Natürlich müsse so eine Pumpe ab und zu gewartet werden. „Gewartet werden“, auch so ein neues Wort! Drei Männer aus dem Dorf hätten das „Warten“ der Pumpen üben müssen. Solange, bis sie es mit zugebundenen Augen konnten. Das ganze Dorf habe dabei zugesehen. Adam el Doma habe ihnen mit großen Papptafeln jeden einzelnen Handgriff erklärt. Was hätten sie dabei nicht alles für neue Wörter lernen müssen. „Meter“ war noch das einfachste. Ein „Meter“ sei ungefähr so viel wie zwei „Ellen“ oder vier „Fuß“. Viele Meter Metallgestänge müssten bei der Wartung aus dem Zylinder gezogen werden. „Zylinder“, was für ein Wort! Ein schlichtes Rohr, in dem das Wasser beim Pumpen aufsteigt, bis es aus der Pumpentülle in den bereitgestellten Kanister fließt.
       Ja, inzwischen hätten sie viel gelernt. Auch, warum es manchmal schief geht mit der Wartung. Die fände meistens nur statt, wenn kein Wasser mehr aus der Pumpe kommt. Man spüre dann keinen Druck mehr, wenn man den Schwengel herunterdrückt – oder den Handle, wie man hier auf Englisch sagt, „Handle“, schon wieder ein neues Wort. Ebenso neu wie das Wort „leather cup“, die Ledermanschette. Das wichtigste Wort überhaupt.
       „Leather cup, leather cup“, riefen die Jungen. Sie wussten, wie wichtig dieser Teil war, wie oft er ausgetauscht werden mußte, weil Sand und kleine Steine im Untergrund das Leder zerrieben, mürbe machten und schließlich reißen ließen. Dann versagte die Pumpe, weil der Pumpenkolben undicht wurde und deswegen kein Unterdruck entstehen konnte, wenn der Pumpenschwengel nach unten gedrückt wurde.
       „Unterdruck“, so recht verstanden hatten sie das immer noch nicht. Das sei, wie wenn sie ihr Hirsebier mit dem Strohhalm tränken, hatte ihnen el Doma zu erklären versucht. Das kennten sie doch. Als erstes saugten sie die Luft aus dem Halm. Dadurch entstehe ein Unterdruck im Halm, behauptete el Doma. Weil es keinen leeren Raum geben könne, zumindest nicht hier auf der Erde, steige das Bier sofort auf in dem Halm und fließe solange in ihren Mund, wie sie fortführen zu saugen.
       So habe es el Doma erklärt. Aber verstanden haben sie es immer noch nicht. Warum kann es keinen leeren Raum auf der Erde geben? Einen Raum, in dem es nicht einmal Luft gibt? Was heißt das überhaupt, leerer Raum?
       Rick wurde langsam ungeduldig. Sich von den Nuba erklären zu lassen, wie eine Wasserpumpe funktioniert, dafür war er nicht hierhergekommen. Auch Adam, der all diese umständlichen Ausführungen für Rick ins Englische übersetzen mußte, war zunehmend genervt. Aber die Alten waren stolz auf ihr technisches Wissen. Man konnte sie nicht einfach unterbrechen und erklären, das interessiere jetzt nicht. Das sah offenbar auch Adam so. Robert war fein raus. Er hatte gleich nach der Begrüßung auf seine Kamera gedeutet. Die Alten hatten genickt und ihm damit die Erlaubnis erteilt zu fotografieren, was immer er wollte, das Dorf, seine Bewohner, die Vorräte, das Vieh. Er war sogar so frech, seine Kamera in das Innere einiger Rundhütten zu halten.
       Die Alten waren jetzt endlich bei der Wartung so einer Pumpe angelangt. Dazu werde ein Dreibein über der Pumpe aufgestellt, mindestens drei Meter hoch, berichtete der mit den eingefallenen Wangen. An der Spitze hänge eine Rolle, über die ein Drahtseil laufe. Dessen eines Ende werde am Pumpengestänge befestigt. Mit dem anderen Ende ziehe man das Gestänge über die Rolle langsam aus dem Zylinder, nachdem man es vom Schwengel, dem Handle, gelöst habe. Aber das sei verdammt schwer, vor allem wenn die wasserführende Schicht sehr tief liege. Achtzehn Meter tief reiche eine ihrer Pumpen, vielmehr war das so. Denn inzwischen funktioniere sie schon nicht mehr. Man habe sie aufgeben müssen.
       „Had to be dropped, had to be dropped,“ äfften die Jungen el Doma nach, keineswegs belustigt, sondern heulend vor Verbitterung. Denn sie waren die Leidtragenden, weil sie jetzt zu einer anderen Pumpe laufen mußten, wo sie von den Kerlen, die an dieser Pumpe Besitzrechte zu haben glaubten, immer wieder weggeschubst wurden.
       Achtzehn Meter Pumpengestänge hätten aus dem Zylinder der inzwischen aufgegebenen Pumpe gezogen werden müssen, mit dem Kolben am unteren Ende. Aber natürlich nicht in einem Stück, sondern immer nur in drei Meter langen Stücken. Das erste Dreimeterstück, ein einfaches Rohr, etwa zwei Daumen dick, mußte von dem folgenden über ein einfaches Gewinde abgeschraubt werden, während einer der Männer aus dem Wartungsteam das noch im Zylinder hängende Gestänge mit einer Rohrzange festhalte, solange bis eine Mutter auf das Gestänge aufgeschraubt worden sei, an der das Drahtseil Halt finde, sodaß das Gestänge über die Rolle am Dreibein weiter herausgezogen werden könne.
       Mit einer Rohrzange ein glattes Rohr festhalten, an dem noch 15 Meter Gestänge hängen, mit dem Kolben am unteren Ende. Einen Moment Unachtsamkeit und das Gestänge entgleitet dem Mann, verschwindet in der Tiefe des Zylinders und ist nicht mehr heraufzuholen. Genau das passierte mit der achtzehn Meter tief reichenden Pumpe.
       „Vanished in the deepness“, heulten die Jungen auf, „vanished in the deepness.“
       Nachdenklich blickte der schweigsame Alte auf Rick. Ob auch Rick spüre, was der Alte empfand? Daß Unicef meinte, Afrikaner würden schnell überfordert durch die hochentwickelte Technik aus Europa, und deswegen die Handpumpen in Indien fertigen ließ, einem Land, das noch einfache Dinge produzieren könne, Dinge, die auch das einfache afrikanische Hirn begreife. Und in Indien sagte man sich, Handpumpen für Afrika? Das können wir. Ein Pumpengestänge, das zerlegt werden kann in drei Meter lange Teilstücke, das auseinander und wieder zusammengeschraubt werden kann, wenn es das ist, was wir liefern sollen, das können wir. Rohre in drei Meter lange Teilstücke zersägen, Gewinde in die Teilstücke schneiden, sodaß sie zusammen und wieder auseinander geschraubt werden können, einfacher geht es nicht. Und wenn Afrikaner mit dieser Technik Wasser aus bis zu dreißig Meter Tiefe pumpen wollen, damit, das versprechen wir, können sie es. Die Augen des Nuba schillerten. Es lag weniger Hohn darin als Mitleid mit ihren Gönnern, mit den Indern, mit Unicef, mit den Spendern.
 
       Adam holte tief Luft. Endlich konnte er auf seine Frage zurückkommen. „Wie ist es nun? Seid ihr zufriedener mit dem Leben im Dorf, seit ihr die Handpumpen habt?“
       Die drei Alten sahen sich an. Der jüngste schüttelte den Kopf. Nein, sagte der Alte mit den eingefallenen Wangen. Wie war es denn vorher?, hakte Adam nach. Vorher hätten die Frauen sechs Stunden gehen müssen bis zur nächsten Quelle und sechs Stunden zurück. Natürlich war das anstrengend. Mit den Handpumpen war das Leben viel bequemer geworden. Wenn die Frau Wasser brauche, schicke sie mal eben den Jungen mit dem Kanister zur Pumpe. „Und statt zwölf Stunden unterwegs zu sein, um Wasser zu holen, könnten die Frauen jetzt den ganzen Tag in ihrer Einfriedung bleiben, die Hütte ausfegen, nach dem Vieh schauen, das Essen vorbereiten, kleine Handarbeiten aus Wolle oder Baumwolle für den Markt in Kadugli fertigen, eben alles verrichten, was seit je her Sache der Frauen ist.“
       „Ihr verwirrt mich“, sagte Adam. „Geht es Euch nun besser, seit ihr die Handpumpen habt, oder schlechter? Es kann doch nicht beides der Fall sein.“
       Die Alten sahen sich eine ganze Weile schweigend an. Wieder war es der jüngste unter ihnen, der sich als erster regte. Mit dem Daumen der rechten Hand deutete er über seine Schulter hinweg auf die Kinder, die immer noch wie gebannt den Ausführungen der Erwachsenen folgten.
       Barsch fuhr der Alte mit den eingefallenen Wangen die Jungen in einem unverständlichen Nuba-Dialekt an und zeigte in Richtung einer Ansammlung von Rundhütten. Erst zögernd, dann immer ängstlicher um sich blickend erhoben sich die wie festgewurzelt im Sand sitzenden Jungen und rannten in der angezeigten Richtung davon.
       „Jetzt können wir sprechen, ohne daß die Kinder uns hören“, sagte der Alte mit den eingefallenen Wangen. „Denn es wäre nicht gut für ihre Ohren, wenn sie hörten, daß wir uns über ihre Mütter beklagen. Es ist nämlich so, daß die Frauen unleidlich geworden sind, seit wir die Handpumpen haben. Ständig sind sie am Jammern, streiten sich mit uns Männern, sind mit nichts zufrieden. Und warum ist das so? Es fehlt ihnen der weite Weg zu der abseits liegenden Quelle, die sechs Stunden hin und sechs Stunden zurück. Da konnten sie sich untereinander austauschen über ihre Sorgen, über den Kummer mit ihren Männern, über ihre unerfüllten Kinderwünsche, einfach über alles, was ihnen Sorgen machte. Das fehlt ihnen jetzt. Die Frauen treffen sich nur noch zum Erntefest, einmal im Jahr.“
       Rick sah seine Hypothese, nämlich daß die Leute zufriedener würden mit dem Leben im Dorf, wenn die Wasserversorgung sich mit den Handpumpen verbesserte, schon in Luft aufgelöst. Von der daran anknüpfenden Hypothese, daß infolgedessen weniger junge Leute das Dorf Richtung Khartum verlassen würden, ganz zu schweigen. Er wollte Adam schon einen Wink geben, auf die jetzt sinnlos gewordene Frage nach der Wirkung der Handpumpen auf die Land-Stadt-Wanderung zu verzichten. Aber Adam hatte eine bessere Idee. Er wandte sich wieder an die Alten.
       „Was hieltet ihr davon, wenn ihr die Frauen dazu brächtet, neben einer der Handpumpen einen Gemüsegarten anzulegen, in dem nur sie bestimmen, was gesät und was geerntet wird? Die Männer würden nur bei der Einzäunung helfen und beim Transport der Ernte zum Markt in Kolulu.“
       Die Alten klatschten in die Hände. „Natürlich! Warum sind wir nicht selbst darauf gekommen! Das machen wir“, sagte der Alte mit den eingefallenen Wangen.
       „Angenommen, der Garten gedeiht und es breitet sich wieder Zufriedenheit aus im Dorf und besonders unter den Frauen, glaubt ihr, daß dann weniger junge Leute weggehen werden nach Khartum, weil sie jetzt auch hier eine Zukunft zu haben glauben?“
       Die Alten lachten. „Im Gegenteil. Es gehen noch mehr weg, weil sie uns Alte gut versorgt wissen.“
       Adam sah Rick an und zuckte mit den Schultern. Rick ließ sich nichts anmerken und gab ein Zeichen zum Aufbruch.
 
 
© Wolf Christian von Wedel Parlow, Wuppertal, 21.10.2017