Der überaus vornehme Friseur (2)

von Hermann Harry Schmitz

Illustration © Barbara Gauger
Der überaus vornehme Friseur (2)
 
von Hermann Harry Schmitz
 
Ich hatte eine ganz unbegrenzte Devotion, eine fast religiöse Hochachtung vor diesem Manne, dem ich, kein Träger eines besonders exklusiven Namens und ohne viele Nullen, nicht das geringste Interesse einflößte. Ich mußte zufrieden sein, überhaupt in seinem Salon verkehren zu dürfen,
Die geistreichen, schöngeistigen Philosopheme eines Freundes, der für Wilde und Brummel schwärmte, glatt rasiert war, den Zeigefinger mit einem großen Topasring aus dem Cinquecento geschmückt hatte und in einer fast krankhaften Weise überall den Dandy witterte, hatten noch das ihrige getan, meinen Respekt ins Unangemessene wachsen zu lassen.
„Schau dir nur diesen Mann an“, hatte mein Freund gesagt, „diese ruhige Eleganz, diese fast raffinierte Einfachheit seiner Erscheinung, kein Detail unterstrichen, alles auf die Gesamtwirkung berechnet, auf eine Harmonie von Nuancen und Linien. Sein distinguiertes, abgemessenes Benehmen. Seine vornehme Ruhe.“
Weil mein Freund viel klüger war als ich, dieses auch durch einen akademischen Grad bewiesen hatte, so gab ich ihm rückhaltslos recht.
„Ich bin sicher, dieser Mann hat sich das außergewöhnliche Milieu dieses Friseurladens als bewußte, ganz raffinierte mise en scene seiner Person ausgewählt.“
Schon der Alte hatte den Laden gehabt, dachte ich mir, sagte es aber nicht.
„Hast du beobachtet, wie er wirkt, gegen die hohen, innen mit Samt ausgeschlagenen, strengen Glasschränke aus poliertem Holz mit goldenen Empireemblemen? Gegen die ihres Wertes sich sehr bewußten Kristallflakons, die in vornehm großen Abständen in diesen Schränken stehen? Könnte er im roten Jagdfrack auf einem Vollblutpferd, im grauen Gehrock eine elegante Mailcoach lenkend, im schwarzen Frack, eine seltene Orchidee angesteckt, auf dem Fest einer Herzogin, im weißen Tennisdress, das Racket schwingend, eine bessere Figur abgeben?“
Dann hatte er, hingerissen von seiner Begeisterung, enthusiastisch ausgerufen: „Dieser Mann befindet sich hier in diesem Rasiersalon lediglich einer Laune, einer satanistischen Lust willen, als Sammler und Liebhaber menschlicher Farcen. Er will die Menschen studieren, in ihrem jämmerlichen Naturzustand, ohne Maske, ohne Aufmachung, wenn sie sich wie hier auf Gnade und Ungnade anderen in die Hände geben. Liegt nicht ein eigentümlicher Reiz darin, Autoritäten in würdelosen, beschämenden, nivellierenden Situationen zu sehen? Ehrwürdige ernste Männer in weiten weißen Mänteln, die ihnen etwas von einer französischen Amme geben!“
Mein Freund mochte wohl recht haben mit dieser neuen Hypothese. In der Tat, es war eine eigenartige Sensation, sich auszumalen:
Goethe beim Friseur, halb eingeseift, den Kopf krampfhaft zurückgebeugt, die edle Nase in den Händen des Friseurgehilfen, bittend, man möchte ihn nicht gegen den Strich rasieren. Oder den Turnvater Jahn, der sich aus seinem langen Liebegottbart einen Kranzbart schneiden lassen will und den Schnurrbart englisch zustutzen läßt. Oder Schleiermacher, der peinlich darüber wacht, daß  man ihm den Scheitel durchzieht und mit Pomade festlegt. Oder Kant, der sich Koteletten und eine Fliege wachsen lassen möchte. Oder Friedrich Rückert, der etwas gegen seine Schuppen tun will!
Von der Fülle der sich häufenden Gesichtspunkte war ich völlig konfus geworden.
Auf jeden Fall aber hatten die Anregungen meines Freundes so auf mich gewirkt, daß ich den vornehmen Friseur fast wie ein höheres Wesen betrachtete. Mit heiligem Schauern betrat ich sein Geschäft und drückte mich ganz klein und bescheiden, mit einer tiefen Verbeugung an ihm vorbei.
Einen ähnlichen, nicht ganz so ausgesprochenen Respekt habe ich nur noch vor Oberkellnern und Portiers großer Hotels, vor Müttern mit heiratsfähigen Töchtern, vor Bezirksfeldwebeln, vor satisfaktionsfähigen Ehemännern hübscher Frauen und vor Zivilkontrolleuren.
Dann geschah eines Tages das Furchtbare.
Ich hatte sämtliche acht Gehilfen beschäftigt vorgefunden und mich still in dem letzten leeren Rasiersessel mit einer sehr zerlesenen Nummer einer illustrierten Wochenschrift eingerichtet und mit dem denkbar größten Interesse eine darin abgebildete gräfliche Hochzeitsgesellschaft beguckt, als ich plötzlich jemanden hinter mich treten fühlte, einen weißen Frisiermantel umgehängt bekam und aufschauend im Spiegel voller Grauen und Entsetzen  den vornehmen Friseur in eigener Person erblickte, wie er sich anschickte, selbst Hand an mich zu legen.
Der Angstschweiß trat mir auf die Stirn. Ich wollte abwehren und sagen, ich könnte warten, Stunden, Tage, Wochen, Monate, er möchte sich nicht profanieren. Meine Kehle war wie zusammengeschnürt, die Zunge klebte mir am Gaumen. Ich brachte kein Wort heraus.
Die heiligen Hände seiften mich ein, rasierten mich, auch gegen den Strich, was ich gar nicht vertragen konnte; ich wagte nicht, mich zu mucksen. Dann wurde mir der Bart geschnitten, wie ich ihn absolut nicht mochte. Brillantine, Öl, Pomade wurde mir überall hingeschmiert. Das Kopfhaar wurde gestutzt zu einer Frisur, die ich verabscheute. Ich wurde shampooniert, mit Bay-Rum, Eiswasser, Birkenbalsam gewaschen, mit Sachen, bei deren Geruch es mir immer gleich schlecht wurde. Eine Flasche nach der anderen entkorkten die weißen Hände, versahen sie mit meinem Namen und stellten sie in ein Gefach.
Es rang und kämpfte in mir. Ich wollte etwas sagen: mein Idol anflehen, die Hände von mir zu lassen, auf sein Piedestal erhabener Göttlichkeit zurückzukehren. Nur ein ohnmächtiges Keuchen brachte ich hervor.
Furchtbar arbeitete es in meinem Inneren. Mein Brustkorb erweiterte sich. Die Rippen bogen sich gerade, so daß ich ausschaute, wie ein Christbaum oder ein Garderobeständer. Meine Ohren fransten aus. Die Knöpfe an meinem Anzug zerflossen zu einer übelriechenden Masse. Mein Schirm sprang mit einem schrecklichen Satz aus dem Schirmständer in das Zimmer, spannte sich von selbst auf und flog wehklagend, wie ein gespenstiger Vogel, durch den Raum.
Alle übrigen Anwesenden: Gehilfen und Kunden waren längst über alle Berge. Erst hatten sie starr vor Staunen dem Unerhörten zugeschaut, als der vornehme Friseur an meinen Stuhl getreten war; als er aber begonnen hatte, ernst zu machen, waren alle Hals über Kopf voll namenlosen Entsetzens weggestürzt. Nur ein alter Geheimrat, der in der ersten Aufregung auf den brennenden Ofen geklettert war, war übrig geblieben. Er klebte an der heißen Ofenplatte fest und ließ sich bräunen, brutzelte gar lustig, wie ein Bratapfel.
Der ganze Laden revoltierte. Alles ging drunter und drüber.
Flaschen platzten mit einem lauten Knall, ihr Inhalt verfärbte sich, verdickte sich dann zu einem zähen Brei, aus welchem hauptsächlich behaglich feixende Mehlwürmer krochen. Von den Spiegeln lief das Quecksilber in Bächen herunter; fußhoch stand es bereits im Zimmer. Mein weicher Hut verwandelte sich in einen steifen Hut, der anschwoll, platzte und als flügellahme Fledermaus ungeschickt herumflatterte.
Alles um mich begann sich zu drehen. Ich wurde durch die Schaufenster auf die Straße geschleudert. Die Häuser spuckten ihre Fenster auf das Pflaster. Kometen schleppten ihre Schweife durch die Straßen, wirbelten einen tollen Staub auf, verhedderten sich in Staketen und rissen die Stoßlitze ab. Elektrische Straßenbahnwagen liefen verwirrt über Straßen, wo keine Schienen lagen, und versuchten sich voller Angst in Hauseingänge zu flüchten.
Da traf mich, Gott sei Dank, der Schlag.