Der alte Mann 17

(...und der Duft der Druckerschwärze)

von Erwin Grosche

Zeitungsleser - Foto © Frank Becker
Der alte Mann
und der Duft der Druckerschwärze
 
Der alte Mann ging mit seinem Hund spazieren. Es war sechs Uhr morgens, und die Temperaturen lagen bei 22 Grad. In den Morgenstunden konnte man es auf dem Monte Scherbelino aushalten. Bald würde es nicht nur heiß sein, sondern bullenheiß. „In Paderborn regnet es oder es läuten die Glocken“, sagte man immer, aber in diesem Jahr schwiegen erst monatelang die Domglocken und dann regnete es auch nicht mehr. Gab es da einen Zusammenhang? Heute wollte der alte Mann zum Westfälischen Volksblatt in die Rosenstraße gehen. Vor dessen Schaufenstern stand er manchmal, um die dort ausgehängten Zeitungsseiten zu lesen. In der Geschäftsstelle gab man dann Anzeigen auf oder las den angefangenen Artikel in einem Monatsordner weiter. Der alte Mann setzte seine Sonnenbrille auf und ging los. „Bleib“, sagte er zu seinem Hund. Er war im kühlen Flur besser aufgehoben. Sein Freund Alfred hatte ihm von einem Artikel vorgeschwärmt, in dem so anrührend und aufrüttelnd beschrieben wurde, wie altvertraute Begriffe aus unserer Alltagssprache verschwunden waren. Er mußte den Artikel überblättert haben, nun lag seine Zeitung schon nicht mal mehr in der Altpapiertonne, denn die war gestern geleert. worden Diesen Artikel wollte unbedingt er im Bäumchenblatt finden und lesen. Wer wußte heute noch was eine Bollerbuxe ist? Viele trugen eine viel zu weit geschnittene Hose und wußten nicht, daß das eine Bollerbuxe war. „Mir schmeckt auch das Butterbrot besser, wenn es ein Bütterken ist“, murmelte der alte Mann. „Ein Bütterken ist mit Liebe gemacht und ein Butterbrot mit Sauerteig.“ Durchgeschwitzt kam er in die Rosenstraße. In der Innenstadt mußte das Thermometer schon auf mindestens 34 Grad geklettert sein. Zum Glück gab es in der Geschäftsstelle eine Klimaanlage. Zwei Frauen saßen hinter ihren Tischen und begrüßten ihn mit einem Nicken. Sofort schaute er sich nach dem Ordner um, in dem immer die Zeitungen des Monats gesammelt worden waren. Auf dem Tisch lag aber kein Sammelordner, sondern dort stand ein kleiner Computer und streckte ihm die Zunge raus. „Was ist denn das?“, sagte der alte Mann. „Wo sind denn die Zeitungen und der dicke schwarze Ordner aus Pappe?“ Er schaute sich um. Wie schnell sich alles ändern kann. Das Neue klopft nicht an die Tür und wartet bis jemand „Herein“ ruft. Es kommt ungefragt und verändert alles, ob man will oder nicht. „Kann ich ihnen helfen?“, fragte eine der jungen Frauen. „Ich suche den Zeitungsordner“, sagte der alte Mann. Die Frau lachte. „Wir haben jetzt auf Computer umgestellt“, sagte sie. „Sie müssen nur einen Suchbegriff eingeben, dann finden sie auch dort alles schnell und einfach.“ Der alte Mann setzte seine Sonnenbrille ab. „Ich suche den Zeitungsordner“, sagte er. „Ich möchte einfach nur die Seiten umblättern und alles gerne mal durchschauen.“ Die Frau kam hinter ihrem Tisch hervor und rief im Computer die Hauptseite auf. „Ich kann ihnen helfen“, sagte sie. „Wir geben nur den Suchbegriff ein und der betreffende Artikel erscheint.“ Der alte Mann vermißte das Rascheln der Papierseiten und den Duft von Druckerschwärze. „Dann geben sie mal ’Verkasematuckeln’ ein“, sagte er. Die Frau schaute ihn an. „Verkasema...was?“, fragte sie. Der alte Mann seufzte. „Ich suche den Bericht über den Verlust von allbekannten Begriffen aus unserer Alltagssprache“, sagte er. „’Verkasematuckeln’ sagen die Paderborner, wenn sie einem Begriffsstutzigen etwas erklären müssen.“ Die Frau nickte. Sie hatte kein Wort verstanden. „Dann versuchen sie es mal mit ’Gedöns’“, sagte der alte Mann. „Vielleicht erkennt ihr Supercomputer das Wort ’Gedöns ’“. Die Frau gab den Begriff ein und schüttelte den Kopf. „Er kennt kein Gedöns. Ich brauche mehr Informationen, sonst weiß der Computer nicht, was er machen soll.“ Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. Er wollte seine Informationen nicht aus einem Computer haben, sondern aus einer Zeitung. Wenn nun schon die Zeitungsverlage selbst die Zeitungen aus dem Alltag verbannten, dann sah es schlecht bestellt aus um die Tagespresse. „Man kann doch keinen Computer mit aufs Klo nehmen“, sagte der alte Mann. „Ich lese doch immer die ersten Artikel auf dem Klo. In was soll man denn beim Umzug das Geschirr einpacken, wenn es keine Zeitungen mehr gibt und was halte ich beim Frühstück vor meine Nase, wenn ich mal inmitten der Weltnachrichten verschwinden will? Was zerknülle ich, wenn ich wütend bin, und wie soll ich aus einem Computer die Todesanzeigen ausschneiden, die ich mir dann an den Kühlschrank klebe?“ Der alte Mann ging langsam nach Hause. Die Sonne begrüßte ihn wie eine treue Freundin. „Ich bleibe bei Dir“, schien sie zu sagen. „Aber zu viel Anhänglichkeit kann auch sehr lästig sein“, dachte der alte Mann, wischte sich den Schweiß von der Stirn und beschloß, das alles genau auseinander zu klamüsern.
 

© 2017 Erwin Grosche
(Aus dem Buch: „Der alte Mann und sein Hund: Warum der Hawaiitoast auch schon bessere Zeiten gesehen hat “ Bonifatiusverlag)