Meryams Rede - Anne

Eine Erzählung

von Safeta Obhojas

Meryams Rede (2)
 
Anne
 
von Safeta Obhodjas
 
Unser Jubiläum!
Meine Mutter und ein paar ihrer Gesinnungsgenossinnen haben vor fünfundzwanzig Jahren den Verein „Viva-Femina“ gegründet, einen Zufluchtsort für viele Mädchen und Frauen, die aus der Hölle der häuslichen Gewalt zu entkommen versuchten. Vor fünf Jahren bekam meine Mutter eine Stelle im Ministerium für Familie und Soziales, aber der Verein war und blieb stets ihr Lebenswerk, das sie nicht aufgeben wollte. Sie überredete mich, in ihre Fußstapfen zu treten, hielt sich im Hintergrund und beschränkte sich auf eine Rolle als Beraterin. Von ihr lernte ich, wie man den Mächtigen wegen so viel Leid der Frauen ein schlechtes Gewissen einreden konnte. Und daß man nie vergessen durfte, sowohl im Verein als auch in der Öffentlichkeit nur Stärke und Kompetenz zur Schau zu stellen und Mißerfolge nie zu zugeben.
Wir beschlossen, das fünfundzwanzigjährige Bestehen des Vereins adäquat zu feiern. Ein bißchen zögernd überließ sie es mir, den Ablauf der Feierlichkeiten selbst zu gestalten. Ich mußte nicht lange überlegen. Neben einer Retrospektive in Form einer Fotoausstellung und zwei Konzerten plante ich auch eine Sammlung der Erfolgsstories aus der Praxis des Vereins herauszugeben und daraus einen schönen Leseabend zu gestalten. Meryam! Auf einmal sprang dieser Name aus meiner Erinnerungskiste. Meine Jugendfreundin, die vor geraumer Zeit von meiner Familie und dem Verein „Viva-Femina“ in ein neues Leben geleitet worden war. Wohin hatte ihr gesunder Ehrgeiz sie inzwischen getragen? Ein kurzes Eintippen ihres Namens und schon erschien ihre Spur im Netz. In einer Anwaltskanzlei, die viel mit Familienrecht zu tun hatte, bekleidete sie einen Posten als Assistentin. Eine ziemlich bescheidene Stelle für eine ambitionierte Studentin wie Meryam. Aber doch eine Erfolgsstory, zumal sie auf eigenen Füßen stand. Ich wollte sie ohnehin nicht über ihre Karriere befragen. Für mein Sammelbändchen benötigte ich ihre Erinnerung an unsere gemeinsame Geschichte mit der Bibel.

Ich rief die angegebene Nummer an, während ich auf die Verbindung mit ihr wartete, spürte ich eine Anspannung. Wie würde sie jetzt reagieren? Meryam, hier ist Anne. Unsere Verlegenheit versteckten wir hinter den Bemerkungen: Wie viel Zeit und Wasser seitdem ins Meer geflossen sind usw. … Ich beendete rasch die Floskeln durch die Einladung, unseren Verein „Viva-Femina“ zu besuchen. Nach ein paar Sekunden Schweigen schlug sie mir vor, zu ihr in die Kanzlei zu kommen, wo wir in Ruhe miteinander reden könnten.
Ich akzeptierte ihren Vorschlag, und machte mich am nächsten Tag auf den Weg zu ihrer Firma, die sich in einem frisch renovierten Gebäude befand, mitten in einem gepflegten Garten. Bei der Begrüßung bemühten wir uns beide cool zu bleiben. Nach kurzem, gegenseitigem Mustern, sagte sie: „Mein Gott, auf einmal sind wir erwachsen!“
In der modern ausgestatteten Küche der Kanzlei, wo Möbel und Geräte metallisch glänzten, waren wir alleine. Meryams hochgezogene Schulter und ihr Gesichtsausdruck deuteten daraufhin, daß sie, obwohl sie nur ein Rädchen im ganzen Getriebe der Kanzlei darstellte, stolz auf ihre Umgebung und ihren Arbeitsplatz war.
„Ach Anne, ich freue mich so sehr, dich wiederzusehen. Wie hast du mich gefunden?“
„Dein Arbeitgeber hat doch eine Homepage. Dort fand ich auch deinen Namen.“
Sie bediente die Kaffeemaschine.
„Es mag sein, daß meine Stelle ganz unten auf der Rangskala liegt. Doch sie ist sehr wichtig, ich bin eine akribische Aktenprüferin, mir entgeht nichts. Ich arbeite lieber mit Paragraphen als mit Menschen.“
„Unsere Beratungsstelle arbeitet nur mit Menschen, mit Mädchen und Frauen in Not, die in einer ähnlichen Lage sind, wie du damals warst.“
Sie stellte die Tasse vor mich, zeigte jedoch kein Interesse, unsere gemeinsamen Erinnerungen aufzufrischen. Ich erzählte ihr von dem Jubiläum des Vereins, das wir mit allen Freunden und Unterstützern feiern wollten.
„Wir planen ein sehr buntes Programm, in dessen Rahmen wir von den positiven Beispielen berichten möchten, von den Mädchen und Frauen, die es geschafft haben, sich aus den Zwängen zu befreien. Meryam, ich möchte dich zu unserem Jubiläum einladen. Du hast auch etwas zu erzählen.“
Sie blickte mich mißtrauisch an, als würde sie hinter dieser Einladung eine Manipulation vermuten.
„So, du wünscht dir eine Rede von mir! Die tagtägliche Praxis dieser Kanzlei bietet Material, das für zehn Bände ausreichen würde. Wie soll meine Rede aussehen? Möchtest du sie mehr trocken-statistisch oder exemplarisch, aus dem Leben gegriffen, meine ich?“
„Ich habe keine klassische Rede gemeint.“
Das Schweigen dauerte ein bißchen länger.
„Anne, verlangst du von mir die Geschichte mit der Bibel?“
„Ja, das ist eine tolle Anekdote, mit der man das Publikum erheitern kann. Ich habe dich mit der rechten Hand auf dem Buch vor deiner Sippe gerettet, und du hast etwas aus deinen neuen Möglichkeiten in Freiheit gemacht. Solche positiven Beispiele brauchen wir für unser Jubiläum“, ich konnte einen Lachanfall nicht unterdrücken. „Erinnerst du dich ...“
„Anne, danke für dein Vertrauen und für dein Kommen. Ich werde mir überlegen, worüber ich reden möchte.“
Ihr Handy summte und sie beeilte sich, unsere Kaffeetassen einzusammeln und Tschüß zu sagen.

Zwei Tage später bekam ich eine verwirrende E-mail von ihr. „Liebe Anne, ich habe mit meiner Vergangenheit längst abgeschlossen. Ich sehe mich nicht in der Lage, die witzigen Anekdoten von damals herauszufischen und damit euer Publikum zum Lachen zu bringen. Unsere Kanzlei und dein Verein „Viva-Femina“ haben viel mit der gleichen Klientel zu tun. Seit ich hier arbeite, habe ich das ganze absurde Theater der gescheiterten Integration begriffen. Ein Theater, dessen Bühne auf zwei vollkommen unterschiedliche, weibliche Lager aufgeteilt ist. Auf der einen Seite stehen die kaum gebildeten Mütter, Großmütter, Großtanten, älteren Schwestern, die das Sagen in den Familien und Sippen der Angekommenen haben. Es mag sein, daß viele Männer zu Gewalttätigkeit neigen, aber sie sind nicht ständig anwesend in der Familie. Mütter, Großmütter, Großtanten haben den Nachwuchs unter Kontrolle, sie unterdrücken die jüngeren weiblichen Mitglieder der Familie und erziehen ihre Söhne zu Paschas und Machos. Sie liefern ihre Töchter, die es wagen, aus der Reihe zu tanzen, ganz bewußt männlicher Gewalttätigkeit aus.
Auf der anderen Seite der Bühne halten die engagierten, einheimischen Frauen den Zepter in der Hand, dazu meist auch das Schild eines Studiums im sozialen Bereich. Diese Frauen hatten ihre Kräfte schon im Kampf für ihre Gleichberechtigung erprobt, und das hat sie hart, aber nicht unbedingt solidarisch mit den schwächeren Zeitgenossinnen gemacht.
Trotz der Überwachung durch die Familie schaffen es einige Mädchen, zu rebellieren und aus diesem Käfig auszubrechen, wie ich das getan habe. Die Flucht bringt sie auf die deutsche Seite, und danach beginnt ihre Odyssee durch das deutsche Sozialsystem, eine Odyssee voller Angst vor der Rache der Familie und Sehnsucht nach Geborgenheit. Beratungen und psychologische Betreuungen können ihnen den Verlust des sozialen Umfelds kaum ersetzen. Sie bleiben in der Grauzone zwischen den zwei Bereichen der aufgeteilten Bühne, ihre Seite haben sie verlassen, aber auf der anderen, der deutschen, sind sie nie richtig angekommen.
Zumal die Frauenrechtlerinnen aller Art sie lieber als Objekte ihrer Empathie, als … du weißt schon, was ich meine. Es wird ihnen nicht einmal gegönnt, ihre Latten höher zu legen.
Meine Rede über die mißlungene Integration ist viel länger, aber ich will dir jetzt nicht alle meine Erkenntnisse verraten. Ich verspreche, aufrichtig und ehrlich von meinen Erfahrungen zu berichten, mit beiden Händen auf den beiden Heiligen Büchern.“
Ich habe Meryams E-mail zehnmal gelesen und mich jedes Mal über ihre Überheblichkeit geärgert. „Meryam, erwartest du jetzt von mir, daß ich dir ein Podest für eine weitere Stufe in der Karriere aufbaue? Wenn ich eine Fachrede über die Integration haben wollte, hätte ich eine namhafte Fachreferentin auf die Bühne geholt. Nicht einen Maulwurf aus der untersten Paragrafen-Schublade einer Kanzlei. Komm herunter, es ist nicht gesund, sich selbst zu überschätzen. Dazu tut es weh, wenn man herunterfällt.“
Meine Mutter hielt mich davon ab, ihr diese E-mail zu senden. „Laß das jetzt so im Raum stehen, Anne, vielleicht wirst du sie eines Tages brauchen.“
 
© Safeta Obhodjas