Schicksale

Eine Trilogie - Teil 3

von Karl Otto Mühl

Karl Otto Mühl - Foto © Frank Becker

Schicksale

III.


Der Computer würde bis zum nächsten Tag nicht verwendbar sein, der vor mir liegende Nachmittag stand noch ungenutzt herum. Ich machte einige Erledigungen, von denen ich bis heute nicht weiß, wie ich sie früher noch neben meinem Dienst erledigen konnte, aber der Nachmittag hielt mir, freundlich lächelnd, immer noch einen Rest Zeit zur beliebigen Verwendung entgegen.

Ich beschloß, gerade heute noch das letzte bisher Aufgeschobene zu erledigen, und fuhr zu einem zweiten Altersheim. Es war leicht zu erkennen, daß es ein gehobenes Heim war, mehr Raum, mehr Licht, weniger Menschen, mehr Stille, auf jedem Tischchen Blumen. Nun gut, der Abend hatte ja bereits begonnen, da war das Personal, das seine Pflicht getan hatte, längst nach Haus gegangen. Ich ging durch die menschenleeren Gänge – alles war so leer und still, daß mir der Gedanke kam, daß selbst die Hoffnungslosigkeit (die sich doch später in beseligendes Licht verwandelt hatte) davon gelaufen sein mußte.

Der Jugendfreund, den ich besuchte, war noch stiller und stummer als mein anderer Freund. Er lag seit zwei Jahren im Koma. Eine Hand war gekrümmt, sie war kühl, während die andere Hand weich und schlaff und warm war.

Sie sei sicher, daß er alles wahrnehme, sagte seine Frau Sylvia, der an der Bettseite saß. Ich faßte ihn an, legte die Hand auf seine Brust, versuchte freundliche und beruhigende Worte.

Er reagiert auf jedes Wort von mir, sagte Sylvia mit Nachdruck. Ich bemerkte nichts, aber ich glaubte ihr dennoch.

Sylvia spricht immer leise, aber deutlich. Ihr Blick ist ruhig und eindringlich. Sie ist jünger als Manfred, der hier vor mir liegt. Seit zwei Jahren kommt sie nach dem Dienst gegen Fünf hier hin, sitzt bei ihm, spricht zu ihm, hilft der Schwester beim Umbetten.

Sie ist die Personalchefin eines Unternehmens mit achthundert Mitarbeitern. Wie so ein stiller, unaggressiver Mensch dahin gelangen konnte, ist schwer verständlich. Wenn man ihr aber begegnet ist und weggegangen, weiß man es plötzlich, es steckt ein großes Potential stiller Kraft in ihr. Oft muß sie an einem einzigen Tag sechzig, siebzig Gespräche führen. Sie hat die gemeinsame Wohnung aufgelöst und ist in die Nähe des Heims gezogen. Von dort geht sie nach neun Uhr abends nach Hause, dreihundertfünfundsechzig Mal im Jahr. Zuhause arbeitet sie noch für die Firma.

Ich bin zufrieden, sagt sie. Ich mache es gerne. Wir haben spät geheiratet, aber jetzt sind wir doch immer noch zusammen. Kürzlich habe ich erfahren, daß sie Religionswissenschaft und Germanistik studiert hat. Irgend jemand, vielleicht waren es Verwandte, muß erkannt haben, was in ihr steckt.

Während des Umbettens gehe ich hinaus. In einer Art Lounge draußen spüre ich Hotelatmosphäre, lediglich einige weißlackierte Servierwagen murmeln von Krankheit und Alter.

In diese Welt ragt das Schicksal dieser Menschen hinein. Es legt den Finger an die Lippen, hier gibt es nichts zusagen.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2008