Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (4)

von Immanuel Kant

Beobachtungen über das Gefühl
des Schönen und Erhabenen (4)

von Immanuel Kant
 
(Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen
in dem Gegenverhältniß beider Geschlechter.)
 

Man kann nach diesen Begriffen vielleicht etwas von der so verschiedenen Wirkung verstehen, die die Gestalt eben desselben Frauenzimmers auf den Geschmack der Männer thut. Dasjenige, was in diesem Eindrucke sich zu nahe auf den Geschlechtertrieb bezieht und mit dem besondern wollüstigen Wahne, darin sich eines jeden Empfindung einkleidet, einstimmig sein mag, berühre ich nicht, weil es außer dem Bezirke des feinern Geschmackes ist; und es kann vielleicht richtig sein, was der Herr v. Buffon vermuthet, daß diejenige Gestalt, die den ersten Eindruck macht, zu der Zeit, wenn dieser Trieb noch neu ist und sich zu entwickeln anfängt, das Urbild bleibe, worauf in der künftigen Zeit alle weibliche Bildungen mehr oder weniger einschlagen müssen, welche die phantastische Sehnsucht rege machen können, dadurch eine ziemlich grobe Neigung unter den verschiedenen Gegenständen eines Geschlechts zu wählen genöthigt wird. Was den etwas feineren Geschmack anlangt, so behaupte ich, daß diejenige Art von Schönheit, welche wir die hübsche Gestalt genannt haben, von allen Männern ziemlich gleichförmig beurtheilt werde, und daß darüber die Meinungen nicht so verschieden seien, wie man wohl gemeiniglich dafür hält. Die circassische und georgische Mädchen sind von allen Europäern, die durch ihre Länder reisen, jederzeit für überaus hübsch gehalten worden. Die Türken, die Araber, die Perser müssen wohl mit diesem Geschmacke sehr einstimmig sein, weil sie sehr begierig sind ihre Völkerschaft durch so feines Blut zu verschönern, und man merkt auch an, daß der persischen Race dieses wirklich gelungen ist. Die Kaufleute von Indostan ermangeln gleichfalls nicht, von einem boshaften Handel mit so schönen Geschöpfen großen Vortheil zu ziehen, indem sie solche den leckerhaften Reichen ihres Landes zuführen, und man sieht, daß, so sehr auch der Eigensinn des Geschmacks in diesen verschiedenen Weltgegenden abweichend sein mag, dennoch dasjenige, was einmal in einer derselben als vorzüglich hübsch erkannt wird, in allen übrigen auch dafür gehalten werde. Wo aber sich in das Urtheil über die feine Gestalt dasjenige einmengt, was in den Zügen moralisch ist, so ist der Geschmack bei verschiedenen Mannspersonen jederzeit sehr verschieden, sowohl nachdem ihr sittliches Gefühl selbst unterschieden ist, als auch nach der verschiedenen Bedeutung, die der Ausdruck des Gesichts in eines jeden Wahne haben mag. Man findet, daß diejenigen Bildungen, die beim ersten Anblicke nicht sonderliche Wirkung thun, weil sie nicht auf eine entschiedene Art hübsch sind, gemeiniglich, so bald sie bei näherer Bekanntschaft zu gefallen anfangen, auch weit mehr einnehmen und sich beständig zu verschönern scheinen; dagegen das hübsche Ansehen, was sich auf einmal ankündigt, in der Folge mit größerem Kaltsinn wahrgenommen wird, welches vermuthlich daher kommt, daß moralische Reize, wo sie sichtbar werden, mehr fesseln, imgleichen weil sie sich nur bei Gelegenheit sittlicher Empfindungen in Wirksamkeit setzen und sich gleichsam entdecken lassen, jede Entdeckung eines neuen Reizes aber immer noch mehr derselben vermuthen läßt; anstatt daß alle Annehmlichkeiten, die sich gar nicht verhehlen, nachdem sie gleich Anfangs ihre ganze Wirkung ausgeübt haben, in der Folge nichts weiter thun können, als den verliebten Vorwitz abzukühlen und ihn allmählig zur Gleichgültigkeit zu bringen.

 


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