Unverhofft (1)

Eine Kriminalerzählung

von Frank Becker

Foto © Frank Becker

Unverhofft (1)
 
Als die Türklingel schrillte, zuckte Andreas Schmölders zusammen. Er erwartete niemanden, mehr noch, er wünschte sich jetzt nichts weniger als Besuch – nicht in diesem Augenblick. Ein rascher Griff zum Lichtschalter ließ das Zimmer ins fahle Licht der späten Dämmerung sinken, die sich über den atemlos ausklingenden Tag legte.

Schmölders war kein Hasenfuß, aber jetzt schien der Boden unter ihm zu schwanken, sich zu drehen, die Kontrolle über sich war ihm entglitten – er kannte sich selbst nicht mehr. Schmölders, ein unauffälliger Mann in seinen Vierzigern, Brillenträger mit mittlerer Leseschwäche, Inhaber des Führerscheins für Personenkraftwagen und Abonnent einer Zeitschrift für populäre Wissenschaft war ein ganz normaler Mann, wie man so sagt. Als Sachbearbeiter war er in der Exportabteilung des großen Stahlwerks beschäftigt, in dem er auch ausgebildet worden war. Er sprach leidlich englisch. Als direkt unsportlich konnte er nicht gelten, aber mehr als ein paar Bahnen im modernen Hallenbad der Stadt oder gelegentlich einen Dauerlauf im ebenen Stadtwald mutete er sich nicht zu. Segeln war ein Sport, für den er sich hätte interessieren können, aber das mußte wohl angesichts des schmalen Gehalts, das er im „Vereinigten Edelstahlwerk“ verdiente, ein Traum bleiben. Sah er im Urlaub, den er gerne im Süden verbrachte, ein schönes Boot, berührte er zärtlich die glatte Reling und das polierte Holz. Eine akkurat aufgerollte weiße Leine und ein Beschlag aus glänzendem Messing ließen seine Augen leuchten. Aus einem Handbuch hatte er sich Knoten beigebracht. Ab und zu gönnte er sich ein Fachblatt für Yachten und ein Hochglanz-Herrenmagazin. Letzteres verbarg er vor seinen Kollegen in der Abteilung und später zu Hause vor seiner Zugehfrau sorgsam. Es wäre ihm peinlich gewesen, Bemerkungen dazu hören zu müssen. Die einzigen Extras, die er sich leistete: Informationen über Entdeckungen der Wissenschaft, der Traum vom Segeln auf fernen Meeren – die eine halbe Stunde entfernte Talsperre wäre ihm zu überschaubar gewesen - das mondäne Magazin hin und wieder und wöchentlich zweimal Frau Hellriegel, die seit gut vier Jahren Dienstags und Freitags den Staub von seinem Haushalt fern hielt und ihm die Wäsche besorgte.
 
Schmölders war alleinstehend. In einem provinziellen bergischen Städtchen geboren, wo jeder jeden kannte, hatte er nach dem Abitur am traditionsbeladenen Humanistischen Gymnasium und der Lehre in der Kreisstadt erst spät das Elternhaus und die verstaubte Muffigkeit der engstirnigen Katzelmacher-Atmosphäre verlassen. Der Kontakt zu den Eltern, ohnehin nie besonders intensiv oder gar herzlich, wurde schwächer, hörte irgendwann ganz auf. Keiner vermißte den anderen. Zu Geburtstagen und Weihnachten wurden Postkarten getauscht. Halbherzige Affären mit Kleinstadt-Diven hatte ihn schon in jungen Jahren nicht von dem tieferen Sinn des Zusammenlebens von Männern und Frauen überzeugen können. Rasch hatte er begriffen, daß die Abläufe sich ähnelten. Anbändeln in Gefühlsaufwallungen, ein kurzer Rausch, dann Ernüchterung. Frauen. So hatte er es bei ländlichen Schützenfesten und städtischen Discos erlebt und daran hatte sich mit den Jahren nichts geändert. Eine Weile hatte er eine Kontoristin aus seinem Betrieb getroffen, aber sie wollte heiraten, Kinder kriegen und zu Hause bleiben. Schmölders wollte das nicht. Die spröde Beziehung zu der blassen Buchhändlerin, in deren Geschäft in der Ladenstraße des „Center“ er mal einen Reiseführer, mal einen Kriminalroman gekauft hatte, war nicht von langer Dauer gewesen. Bebend hatte sie sich ihm überraschend schnell ergeben, als er sie ins Kino eingeladen und im dunklen Saal des „Metropol“, von plötzlicher Einsamkeit und ihrem Duft übermannt, nach ihrer Hand gegriffen hatte. Doch auch dieses Verhältnis ging nach ein paar Monaten und wenig phantasievollen Liebesnächten in die Brüche. Die Affäre wurde fade und scheiterte an Langeweile, sie hatten sich bald nicht mehr viel zu sagen gehabt, eigentlich gar nichts - und Hemdenbügeln und Kochen, das wäre für ihn wichtig gewesen, gehörte nicht zu Frl. Klinglers Leidenschaften. Eine Weile hatte Schmölders noch ihre weiche Haut, die festen Brüste und ihre Nachgiebigkeit beim Liebesakt vermißt. Er hatte noch ein paar Mal zögernd den Telefonhörer aufgenommen – ihn dann aber entschlossen doch wieder aufgelegt. Schließlich vergaß er sie und blieb für sich. Er kam zurecht.

Wenig später hatte Schmölders eine Annonce aufgegeben, mit der er eine Haushaltshilfe suchte. Er hatte Frau Hellriegel auch ohne Zeugnisse eingestellt. Sie wirkte geradeaus, offen und ehrlich und bekam den Job. Schmölders zahlte einen anständigen Lohn, schwarz natürlich. Er hatte ihr sogar seinen Schlüssel anvertraut und war gut damit gefahren. Sie arbeitete unauffällig und effektiv und er mochte es, sie wirtschaften zu hören. Er mochte auch den Duft von „All about Eve“, den sie in seiner Wohnung hinterließ: Apfel, Zimt und Vanille. Sie war Ende 30, nicht verheiratet und hatte keine Kinder. In ihrem Beruf als Schriftsetzerin habe sie keine Anstellung mehr gefunden, hatte sie ihm beim Vorstellungsgespräch erzählt. Er hatte ihre Adresse, war aber nie der Versuchung erlegen, einen prüfenden Abstecher dorthin zu machen. Manchmal tranken sie eine Tasse Kaffee zusammen, wenn Frau Hellriegel am Nachmittag kam und Schmölders bereits zu Hause war. Dann unterhielten sie sich ein wenig. Belanglos, aber eine angenehme Unterbrechung. Einmal hatte sie von der Karibik geschwärmt, als sie auf dem Tisch seine Yacht-Illustrierte mit dem Titelfoto eines weißen Bootes auf glasklar türkisem Meer vor weißem Strand und Palmen hatte liegen sehen. Dort hatte sie wohl zu besseren Zeiten einmal einen Traumurlaub verbracht. Aber es wurde kein wirklicher Dialog aus ihren Gesprächen, wenn auch eine gewisse Übereinstimmung zu fühlen war. Sein Buddelschiff mit der „Krusenstern“ und das Modell der „Gorch Fock“ jedenfalls staubte sie sorgsam und liebevoll ab. Frau Hellriegel, die mit Vornamen Eleonore hieß, war schlank, eine aparte, gepflegte Erscheinung, keine glänzende, gelackte Schönheit wie in seinen Magazinen, doch auf erfrischende Art hübsch, mit wippenden kurzen braunen Locken. Mitunter registrierte er einen freundlichen Seitenblick und seit einiger Zeit lag Dienstags und Freitags auf seinem sorgsam aufgeklopften Kopfkissen eine Praline. Das gefiel ihm. Einmal hatte Frau Hellriegel 14 Tage Ferien an der Zuiderzee gemacht. Da hatte er ihre ordnende Hand vermißt.
 
Jetzt aber saß er im verdämmernden Tag auf den Dielenbrettern seiner kleinen Mietwohnung, den Rücken steif an die Wand gepreßt, die Augen geschlossen und horchte zugleich nach seinem dröhnenden Herzschlag und der Wohnungstür. Von Stirn und Oberlippe rannen Schweißtropfen salzig und scharf über sein Gesicht . Seine verschwitzten Hände öffneten und schlossen sich, der Atem ging flach, er versuchte, jedes Atemgeräusch zu vermeiden. Er hatte niemanden kommen hören, aber offenbar wartete schweigend jemand vor der Tür. Es wurde nicht noch einmal geklingelt. Schließlich entfernten sich schwere Schritte treppab, mit einem hörbaren Klacken erlosch das Minutenlicht im Treppenhaus. Es wurde wieder still. Andreas Schmölders schob sich zum Türspion hoch, lugte hindurch und sah in der verkratzten, grotesk das Treppenhaus verzerrenden Optik nichts. Das Mietshaus begab sich langsam zur Ruhe. Er rutschte wieder mit dem Rücken an der Wand hinunter, hörte auf das Ticken der Quarzuhr an der Wand, das vom Rauschen des Blutes in seinen Ohren zeitweise übertönt wurde. Von irgendwoher drangen Fetzen von Radiomusik an sein Ohr und sickerten in sein Hirn. Seine Finger wanderten über die abgenutzten Dielenbretter und erfühlten die Topographie der Maserung im Holz. Er spürte einen eingerissenen Fingernagel, der sich an jeder Unebenheit verhakte. Er begann, Geräusche zu registrieren, die ihm nie zuvor aufgefallen waren: eine Wasserspülung irgendwo im Haus, das Klappern eines Besens, ein vorbeifahrendes Moped, die ferne Sirene einer Ambulanz. Schmölders Nase unterschied die Gerüche von Bohnerwachs, Kaffee, altem Teppichboden und Linoleum, sie roch Kohl, dessen Kochdünste durchs Haus waberten und den eigenen Schweiß, der sich unter den Achseln bildete und perlend an seinem Körper hinunter kroch. Sein Gaumen trocknete aus. Er mußte aufstoßen.
 
Schmölders tastete nach seiner Brille, fand sie in der Brusttasche des durchschwitzten, völlig zerknitterten Hemdes, setzte sie langsam auf und führte den zerdrückten blaßrosa Papierfetzen in seiner Hand vor die Gläser, um sich noch einmal – er wußte nicht, das wievielte Mal es war - zu überzeugen. Das kleine Stück Papier gab Fakten an: 5.000,- Euro in Hundertern stand auf der Banderole. Das Päckchen, das sie zusammengehalten hatte, war aufgelöst, die Scheine lagen um ihn herum auf dem Boden. Schmölders Leben hatte vor zwei Stunden eine plötzliche, entscheidende Wende genommen, schien ihm. Er wußte: nichts würde mehr so sein, wie es noch gestern, noch bis vorhin gewesen war. Denn diese Banderole und dieses Päckchen waren nicht allein. Auf der graublau gemusterten Resopalplatte des Küchentisches lagen in leuchtendem Grün akkurat gebündelte gleiche Päckchen mit den Banderolen einer großen Bank, einige waren zu Boden gefallen, ein Rest stak noch in der jetzt in sich zusammen gefallenen grauen Segeltuchtasche, die verschmutzt und ölfleckig zu seinen Füßen lag. Er tastete nach einem der Scheine, hob ihn gegen das letzte Dämmerlicht und rieb ihn. Wasserzeichen, Prägung, Hologramm und Durchblick stimmten. Echt. Es mußten wohl um die 250 solcher Geldbündel sein, eher mehr, überschlug Schmölders. Ja, eher mehr. Als er sich die Summe vorstellte, wurde ihm übel.
 

Lesen Sie morgen hier den zweiten Teil und Schluß.

© 2004/2019 Frank Becker