Viel Wahn und wenig Sinn
Camus‘ „Caligula“ am Düsseldorfer Schauspiel
Regisseur Sebastian Baumgarten überschreibt seine Caligula-Inszenierung
in Düsseldorf als „Auseinandersetzung mit Albert Camus“.
Der droht im Jahrmarktbudenzauber allerdings unterzugehen.
von Anne-Kathrin Reif
Ach herrje. Was tut mir sowas immer leid: Da sind mehr als ein halbes Dutzend Menschen, die spielen sich zwei Stunden lang die Seele aus dem Leib, entblößen sich, geben sich preis; da sind andere, die sich die dollsten Gedanken gemacht, gelesen, diskutiert, probiert haben – und ich gehe nach der Premiere aus dem Theater und denke: – – – je, nun. Ja, doch, waren ein paar interessante Stellen drin. Aber im Großen und Ganzen: nee, also nicht wirklich. Gelungen ist anders. Überzeugend ist anders. Und vor allem, das Schlimmste: Berührend ist anders. Da wird auf der Bühne gelitten, gemordet, geliebt, gedemütigt, geschrien, gespielt, geheult – und es bringt nichts in mir in Bewegung, außer der Anerkennung für die schauspielerische Leistung. Keine Furcht, kein Mitleid, keine Katharsis und auch nicht wenigstens ein bißchen das Gequältsein von den offenen Fragen, mit denen uns Camus entläßt – nichts davon in dieser Tragödie der Erkenntnis, als die Camus sein Stück angelegt hat.
Liegt es vielleicht am Stück selbst? Das hat man dem Autor oft vorgeworfen. Allzu ideenlastig seien seine Stücke; da wird endlos dialogisiert und monologisiert und dabei das ganz große Faß aufgemacht von wegen Absurdität und Gott und Revolte und Wasnichtalles, da muß man als Regisseur erstmal dafür sorgen, dass überhaupt irgendwas passiert auf der Bühne und nicht nur geredet wird. Regisseur Sebastian Baumgarten sorgt dafür, dass auf der Bühne im Düsseldorfer Schauspiel-Central jede Menge passiert, und Bühnenbildnerin Barbara Steiner sorgt dafür, daß man jede Menge zu gucken hat, und dann werden noch Leinwände rauf und runter gefahren, auf die Videos projiziert werden (Hannah Dörr) und es gibt nahezu durchgängige (Live-)Musik (Stefan Schneider, gespielt von Jovan Stojsin). Die Bühne ist mit historisierenden bunten Jahrmarktsbuden umstellt, vorne links eine, die gelegentlich wie ein Schattentheater bespielt wird oder deren Vorhang als Projektionsfläche dient, es gibt einen riesigen Trichter, aus dem es manchmal dröhnt und der manchmal als Spielfläche dient, es gibt eine pinkfarbene Showtreppe, und die Bühnenmitte ist eine riesige quietschrosa Luftmatratzenspielwiese, auf der man herumspringen und Purzelbäume schlagen kann, und der später die Luft ausgeht.
Jede Menge Action also, und dazu paßt dann auch, daß Scipio mahnend zu Caligula sagt: „aber es gibt doch the religion, the art, the love!“, und daß Caligula Scipio lässig „Skip“ nennt. Es paßt sogar dazu, daß Caesonia eine doofe Göre ist, die gelangweilt am Lutscher leckt, während Caligula mal wieder ein paar Köpfe rollen läßt oder sich sonstige Grausamkeiten ausdenkt und kraft seiner unbeschränkten Macht sogleich Wirklichkeit werden läßt. Was nicht dazu paßt sind die weisen Sätze, die Camus Caesonia in den Mund gelegt hat: „In meinem Alter weiß man, daß das Leben nicht gut ist. Aber wenn das Böse schon auf der Erde ist, warum dann noch dazu beitragen wollen?“ oder „Gebrauche deine Macht, um das, was noch geliebt werden kann, inniger zu lieben. Auch das Mögliche verdient, daß ihm seine Möglichkeiten gewährt werden.“ Nein, solche Sätze nimmt man dieser Caesonia schlicht nicht ab, sie gehen unter, wie so vieles von dem, was Camus uns sagt, untergeht in diesem bunten Spektakel. Caesonia ist nicht nur die ältere Geliebte Caligulas, sie ist neben Scipio in diesem Stück die Stimme der Liebe selbst, die weiß, daß sie recht hat und zugleich weiß, daß sie nichts auszurichten vermag; die weiß, daß sie recht hat und sich dennoch dem Unrecht und der Willkür Caligulas unterwirft und einwilligt in sein mörderisches Tun, weil ihre Liebe ohne Maß ist – was für eine Zerrissenheit, was für eine Verzweiflung in dieser Figur… Allein diese Caesonia da auf der Bühne (Yohanna Schwertfeger) scheint davon nichts zu wissen, und als sie am Ende zuckend und noch ein bisschen mit den goldenen Stiefelettchen strampelnd unter Caligulas würgenden Händen stirbt, ist es mir auch egal.
Leider ist das das Problem sämtlicher Figuren auf der Bühne: Es mangelt ihnen an Zwischentönen, sie haben keine Fallhöhe. Die Patrizier und Senatoren toben von Anfang an wie ein paar Spaßvögel in ihren lächerlichen Leinenkleidchen, in die sie Caligula vielleicht irgendwann zwecks Demütigung stecken würde, über die rosa Luftmatte – daß der Herrscher sie später zwingen wird, sich auch dieser noch zu entledigen und sie in Unterhose und Strümpfen dastehen läßt, macht da nicht mehr viel aus. Keine dieser Figuren scheint je erfahren zu haben, daß Verzweiflung und Trauer und sogar Wut sich auch (oder gerade) in leisen Tönen äußern können; nicht einmal Scipio (Jonas Friedrich Leonhardi), der der wahre Gegenspieler von Caligula ist, weil er ihn liebt und ihm die Stirn bietet.
Man hätte Scipio im von Caligula ausgerufenen Dichterwettstreit nicht erst Celans Todesfuge rezitieren lassen müssen, um deutlich zu machen, wie himmelhoch er den anderen überlegen ist – es hätte eigentlich genügt, hinzuhören, was Camus uns durch ihn zu sagen hat. Um dem das Gewicht zu verleihen, das ihm zukommt, hätte man ihn aber auch am Leben lassen und seinen Weg gehen lassen müssen, wie von Camus vorgesehen. Hier aber entscheidet sich die Regie lieber für den Knalleffekt, daß Scipio sich mit dem Revolver, den er zunächst auf Caligula richtet, selbst erschießt.
Knalleffekt, Tempo, Action, Slapstick, das zieht sich durch. Wie soll man da genau hinhören und darauf kommen, daß jede einzelne Figur in diesem Drama eine eigene Position markiert und uns mit einer anderen Antwort auf die Frage herausfordert, wie man sich am besten durch dieses verdammte absurde Leben schlägt. Schwamm drüber, müssen wir hier nicht durchexerzieren.
Aber Caligula – zu Caligula muß man natürlich was sagen. André Kaczmarczyk, der junge Star des Düsseldorfer Ensembles, der dort fast jeden Tag in einer anderen großen Rolle auf der Bühne steht, darf seiner Figur immerhin ein paar mehr Facetten abringen als seine Kollegen den ihren. Auch mal kühl und gleichgültig sein in seinem Wahn. Meistens aber ist er wunderbar irre, exaltiert, sprunghaft, eben so herrlich durchgeknallt, wie wir uns naiver Weise einen wahnsinnigen Tyrannen vorstellen. Und da er das von Beginn seines Erscheinens auf der Bühne an ist, läßt sich das nur noch durch verschiedene Maskeraden steigern, bis hin zum bleichgesichtigen, clownesken Tod selbst in den letzten Szenen.
Das Problem ist nur: Camus’ Caligula ist gar nicht so ein schlichter wahnsinniger Tyrann, der seine Allmacht aus Lust an der Grausamkeit ausübt. Camus’ Caligula ist zunächst und vor allem der einzige, der die Erkenntnis, daß die Menschen sterben und nicht glücklich sind, und daß dem Leben kein tieferer Sinn innewohnt, in ihrer ganzen existenziellen Tragweite ermißt. Und der dagegen revoltiert, wie die Menschen sich gewöhnlich mit dieser Tatsache arrangieren und sich dennoch behaglich im Leben einrichten. „Dann ist eben alles um mich Lüge“, stellt er fest und entscheidet: „Ich aber will, daß in der Wahrheit gelebt wird!“ Also ernennt Caligula sich selbst zum Lehrer des Absurden und nutzt seine Mittel, die Menschen zu zwingen, in der Wahrheit zu leben: In einer Welt nämlich, in der niemand seines Lebens sicher ist und der grausamste Gedanke jederzeit Wirklichkeit werden kann.
Genau das aber ist immer schon die menschliche Wirklichkeit. Es ist, auf der philosophischen Ebene, nichts anderes als die condition humaine. Und es ist, auf der politischen Ebene, menschliche Wirklichkeit seit undenklichen Zeiten. Mord, Vertreibung, Folter, Enteignung – alles an der Tagesordnung. „Wenn du rechnen könntest, wüßtest du, daß der kleinste, von einem vernünftigen Tyrannen geführte Krieg euch tausendmal teurer zu stehen käme als die Launen meiner Willkür“, sagt Caligula zu Scipio, und wer wollte dem widersprechen. Caligula bedient sich zur Begründung seiner Taten einer konsequent angewandten Logik. Er ist eben nicht „irre“ – er ist in all seinem Tun bei klarem Verstand. Und trotzdem muß uns die Art und Weise und das Ergebnis seiner „Lehre“ vollkommen wahnsinnig erscheinen. Würde die Regie diese Widersprüchlichkeit ernst nehmen und würde es ihr gelingen, die dafür nötigen Zwischentöne herauszuarbeiten, dann würden uns alle naselang selbst die passenden Bilder von mörderischem Krieg, Vertreibung, Enteignung, Folter, Vernichtung einfallen, die das Bühnengeschehen in unsere Gegenwart hinein fortsetzen, und die hier didaktisch einwandfrei mit den entsprechenden Titeln versehen auf die Leinwand gespielt werden.
Würde die Regie diesen Caligula hier nicht schon von Anfang an seinen vermeintlichen Wahnsinn auf so hohem Niveau zelebrieren lassen, dann würde vielleicht auch deutlich, was ihn am Ende tatsächlich irre werden läßt, irre werden lassen muß: Nämlich zu wissen, daß er in allem recht hatte und dennoch sein Weg der falsche war.
Allzu ideenlastig seien die Dramen von Camus, hat man ihm oft vorgeworfen. Zu wenig lebendig, zu wenig Handlung. Das mag stimmen oder auch nicht. Nur: Den philosophischen Ideengehalt mit einem bunten Actionpotpourri zuzuschütten wie in dieser Düsseldorfer Inszenierung anstatt ihm mit echten, lebendigen, fühlenden, liebenden, leidenden Menschen auf der Bühne Fleisch und Blut zu verleihen, kann auch nicht die Lösung sein.
Epilog:
Ich sagte ja schon: Mir tut sowas immer so leid. Und ich muß natürlich nachträglich in Rechnung stellen, daß ich für meinen Teil gar nicht mehr mit einem unbekümmerten, unvoreingenommenen Blick in einem Camus-Stück sitzen kann. Ein paar Jahrzehnte „Leben mit Camus“ kann man halt nicht mehr abschütteln. Der ganze Theaterabend ist übrigens mittels Einblendung zu Beginn überschrieben mit: „Caligula. Auseinandersetzung mit Albert Camus (1938). Düsseldorf 2018“. Auseinandersetzung also. Darf man halt auch nicht so eng sehen. Sehr gut möglich also, daß manch’ weniger Camus-vorbelastete Besucher das Theater gut gelaunt, bestens unterhalten und womöglich sogar zu eigenen Gedanken angeregt verläßt. Der zwar nicht enthusiastische aber doch sehr freundliche Premierenapplaus spricht durchaus dafür. Eine Übernahme aus „365 Tage Camus“ mit freundlicher Erlaubnis
Redaktion: Frank Becker
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