Why haven't I told you?
Albert Camus Drama „Das Mißverständnis“
am Schauspiel Wuppertal
Inszenierung: Martin Kindervater - Bühne & Kostüme: Anne Manss – Dramaturgie: Peter Wallgram – Regieassistenz: Barbara Büchmann – Inspizienz: Gesa Linnéa Hocke
Besetzung: Lena Vogt (Martha) - Hans Richter (Der alte Knecht) - Julia Wolff (Die Mutter) - Konstantin Rickert (Jan) - Ensemble des Schauspiel Wuppertal (Maria) – Alexander Peiler (Gastauftritt) I've told ripples in a brook
Made my heart an open book Why haven't I told you? (Linda Scott)
Schon im Titel steckt das Absurde dieses Stücks – einen aus Habgier zynisch geplanten Mord als „Mißverständnis“ zu apostrophieren. Camus, dessen Vorhaben war, die hier wörtlich zu nehmen fatale fehlende Aufrichtigkeit unter Menschen in der Form eines antiken Dramas, gekleidet in ein zeitgenössisches Gewand, anzuprangern geht auf – und unter die Haut. Geschrieben 1944, in einer Zeit fehlender Menschlichkeit, hat er es als böses absurdes Theater, ein Stück „Verfallsliteratur“ wie es Paul Rilla nannte, angelegt. Bei der Erstaufführung blieb der Erfolg aus und vermutlich wird das auch weiterhin so sein, denn auch heute sind Aufrichtigkeit und Offenheit ein rares Gut. Wer möchte sich das schon aufs Brot schmieren kassen.
Martin Kindervater folgt Camus´ quälendem Problem in seiner Inszenierung als griechische Tragödie mit bitter-komischen Momenten, indem niemand niemandem offen gegenübertritt, stets auf den Schritt den anderen wartet. Nein, einer sagt es, einmal, zum bitteren Schluß, als alle außer Maria (Ensemble) ihr Lavieren mit dem Tod bezahlt haben. Aber dazu später.
Nach 20 Jahren kehrt der einst grußlos aus dem Haus in der gesellschaftlichen Wüstenei gegangene Sohn Jan (Konstantin Rickert) in die Heimat, das heruntergekommene Hotel seiner Mutter (Julia Wolff) zurück, die es seither gemeinsam mit seiner Schwester Martha (Lena Vogt) betreibt. Er will gutmachen, was kaum gutzumachen ist und ihnen von dem geben, was er hat. Martin Kindervater läßt geschickt eine Deutungslücke offen: Will Jan das wirklich? Daß die beiden Frauen in dem eigenen Sehnen nach Wohlstand und Sonne längst jede Mitmenschlichkeit verloren haben und alleinstehende, wohlhabende männliche Gäste umbringen und berauben, wird auch sein Schicksal. Er wird die Nr. 11 der Opfer, wie die Galerie über der Bar (großartiges Bühnenbild von Anne Manss) abzählen läßt.
Schon Zacharias Werner hat das Thema 1808 in seinem Drama „Der 24. Februar" abgehandelt. Der nach 28 Jahren aus der Fremde wohlhabend zurückkehrende Sohn wird von den Eltern, denen er sich nicht zu erkennen gibt, umgebracht, um ihn zu berauben.
Fly the ocean in a silver plane
See the jungle when it´s wet with rain
Just remember till you´re home again
You belong to me
(Chilton Price)
Vor allem Martha, die 20 Jahre lang jeder Freude hat entsagen müssen, sehnt sich nach „Sonne, die alle Fragen tötet“. Ihr verzweifeltes Klagen der Mutter gegenüber „Noch kein Mund hat mich geküßt, nicht einmal du hast mich je nackt gesehen!“ tut selbst dem Zuschauer weh. Momente der menschlichen Nähe verpuffen unter der Mordlust auf der einen und der Geheimniskrämerei auf der anderen Seite. Es quält, soviel seelisches Elend und soviel Bitternis zu sehen, doch das soll es ja auch. Das Ensemble läßt sich in diese tiefe Depression sinken, womit die vier es schaffen, all die Trostlosigkeit ebenso anrührend wie hoffnungslos zu vermitteln.
Einer nur sagt, wie oben erwähnt, einmal die Wahrheit, und das ist der bis dahin stumm über die Bühne schlurfende Knecht (Hans Richter). Martin Kindervater hat ihn in Camus´ atheistischer Intention als der HErr inszeniert, der, als er von Maria gefragt wird, ob er denn gar kein Mitgefühl habe ein fröhlich lachendes „Nein“ zurückgibt – und abgeht. Zurück bleibt Jans Frau Maria in vierfacher Ausführung, zurück bleiben wir alle, die wir Mißverständnisse provizieren, hinnehmen, verschulden. Bedrückend.
Die Wuppertaler Inszenierung punktet vor allem durch die Hingabe der Darsteller, die eingesetzte Musik, die plakative Absurdität, durch das Bühnenbild und durch ver-rückte Einfälle wie das „Abschiedsfest“ für das Opfer mit japanischem Karaoke (Lena Vogt zeigt sich als brillante Chansonette) und Papierhüten, durch die Leiche im Regenfaß und den stummen Knecht mit Tom Waits-Qualitäten am Klavier.
La mer
les a bercés
le long des golfes clairs
et d'une chanson d'amour,
la mer
a bercé mon cœur pour la vie.
(Charles Trenet)
Dauer: ca. 1 Stunde, 40 Minuten, keine Pause.
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