Aus Schicksalsjahren

Ragnhild Hemsing & Tor Espen Aspaas – „Beethoven`s Testaments of 1802“

von Johannes Vesper

Aus Schicksalsjahren
 
Beethovens Sonaten Nr.  8 und 9
(für Violine und Klavier)
 
 
Kunst verlangt von uns, nicht stillzustehen.
(Ludwig van Beethoven)
 
Die Sonaten für Klavier und Violine Nr. 8 (op.30 Nr. 3 G-Dur) und Nr. 9 (op.47 A-Dur) stammen aus den Jahren 1802/1803, also aus einer Zeit Beethovens, die er als schwere gesundheitliche, schicksalhafte Krise erlebt hat. Seit 1796 bemerkte Ludwig zunehmende Schwerhörigkeit mit „Sausen und Brausen in den Ohren“. Außerdem kam es immer wieder zu Bauch-- und Verdauungsbeschwerden mit quälenden Durchfällen. Im Sommer 1802 suchte er Besserung in Heiligenstadt, traf aber auf „medizinische Esel“ wie er schrieb. Zunehmend depressiv und stimmungslabil, schrieb er am 6.10.2002 dann den berührenden Brief an seine Brüder Carl und Johann, der als „Heiligenstädter Testament)“ seine Verzweiflung wiedergibt.
Die beiden Violinsonaten aus dieser Zeit wurden wie die Violinsonaten Mozarts noch als Sonaten für Klavier und Violine bezeichnet, beide Instrumentalparts aber durchaus solistisch und einander ergänzend behandelt. Sehr geschwind, leicht im 6/8 Takt fliegt der 1. Satz der Sonate Nr. 8 mit drehenden Sechzehntelketten und gebrochenen Dreiklänge temperamentvoll, souverän, mit feinsten agogischen Nuancen vorüber. In moderatem Grazioso-Dreiertakt des nur gelegentlich mollgetrübten Mittelsatzes werden zunächst die Begleitstimmen variiert, bevor sich Klavier und Violine das Thema wechselseitig zuspielen. Der letzte Satz (vivace) wirbelt mit flottem Ohrwurm elegant durch einen verblüffenden Trugschluß in den flotten Endspurt. Delikatesse, Schwung und Spielfreude der Solisten sind in diesem 18minütigen, unbeschwertem Spaß blitzsauber eingefangen, mit dem eher selige Augenblicke mit einem „lieben zauberischen Mädchen“ einige Monate zuvor assoziiert werden können als eine depressive Krise.
 
Die Sonate Nr. 9 hatte er 1803 für den aus Polen stammenden Geiger George Brigdetower komponiert, der sie mit Ludwig im Mai 1803 im Wiener Augarten uraufführte. Während dieser Uraufführung in Anwesenheit des Erzherzog Rudolph sowie der Fürsten Lichnowitz und Lobkowitz improvisierte der begabte Geiger ohne Absprache unerwartet über eine virtuose Pianoepisode so geschickt, daß Beethoven ihn am Ende des Satzes begeistert umarmte. Die beiden Musiker verstanden sich sehr gut, bis Bridgewater despektierliche Äußerungen über eine Freundin Beethovens fallen ließ, die diesen so erzürnte, daß er die Widmung sofort zurücknahm. Bridgewater verließ Wien und die beiden sahen sich nie wieder. Zwei Jahre später widmete Beethoven die Sonate dem französischen Violinvirtuosen Rudolfo Kreutzer, der nach kurzem Blick auf die die Noten die Sonate für unspielbar hielt. Nicht so Ragnhild Hemsing. Ob aus der ernsten Adagioeinleitung zunächst der Violine alleine ein musikalischer Bezug zur biographischen Krise hergestellt werden kann? Hochvirtuos startet der 1. Satz im Presto, immer wieder von Adagio-Passagen unterbrochen. Pizzi, flinkeste Staccati wechseln unversehens wie die Tonarten. Teilweise stürmen Baß und Diskant unisono voran, bevor nach erneut elegischem Adagio das Ganze mit einer kurzen Stretta im Prestissimo endet. Der langsame Mittelsatz mit melodiösen Variationen spielt sich auch hier im Dreivierteltakt ab. Immer erfreuen Musikalität, Sensibilität und Akkuratesse des Zusammenspiels auch in dem sehr schnellen, rondoartigen letzten Presto, bei dessen Stakkato-Motiv stellenweise Tinnitus-Assoziationen (?) nicht völlig abwegig erscheinen. Ein eindeutiger musikalischer Bezug zur biographischen Krise Beethovens, wie in Titel und Essay suggerieren, läßt sich bei unbeschwerter Virtuosität kaum herstellen. Gegenüber den Sonaten op. 30 weist die Kreutzer-Sonate mit ihrer Dauer von ca. 40 Minuten schon weit in die Musik des 19. Und 20. Jahrhunderts (Janacek), strahlt aber auch in die Literatur (Tolstoi-Novelle) aus.

Ragnhild Hemsing, geboren 1988, spielt seit ihrem 5. Lebensjahr Geige, studierte in Oslo und Wien (bei Boris Kuschnir). Als 14jährige musizierte sie das Mendelssohn-Konzert mit dem Sinfonieorchestern Bergen und Trondheim und seitdem solistisch mit vielen großen Orchestern Europas. (www.ragnhildhemsing.com) . Der Pianist Tor Espen Aspaas studierte an der Norwegischen Musikhochschule, wurde dortselbst mit 34 Jahren Professor und wurde wegen seines Beitrags zum norwegischen Musikleben zum Ritter des königlichen St. Olavs Orden geschlagen. Er spielte als Solist mit dem Philharmonischen Orchester Oslo und allen Sinfonieorchestern Norwegens. Seine Diskographie umfaßt Beethoven, Schönberg, Webern, Berg und das komplette Klavierwerk von Paul Dukas (www.torespenaspaas.no).
Booklet in englöischer un norwegischer Sprache.
 
Ragnhild Hemsing & Tor Espen Aspaas – „Beethoven`s Testaments of 1802“
© 2019 Lindberg Lyd AS,  Recorded in Sofienberg Church, Norway, April and November
Ragnhild Hemsing (vl) & Tor Espen Aspaas (p)
Stücke:
Sonate No. 8 für Violine und Piano in H-Major, op. 30 No. 3, 1. Allegro assai, 2. Tempo di Minuetto, ma molto moderato e graziosos, 3. Allegro vivace.
Sonate No. 9. für Violine and Piano in A Major , op.47 „Kreutzer”. 4. Adagio sostenuto – Presto, 5. Andante con Variazioni, 6. Presto
 
Gesamtspielzeit: 59:30
 
Weitere Informationen:  www.lindberg.no  (die Webseite ist allerdings derzeit nicht aufrufbar)