Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei

Claire Huangci – „Pastorale“

von Johannes Vesper

„Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“
 
Claire Huangci mit Beethovens Pastorale
als Lisztsche Transkription für Klavier
 
Wann wir die 6. Sinfonie von Ludwig van Beethoven jemals wieder mit großem Sinfonieorchester in vollem Konzertsaal werden hören können, ist ungewiß. Die Konzertsäle sind geschlossen. 30 Milliarden € beträgt der coronabedingte Schaden 2020 bisher, und für 2021 werden die Umsatzverluste in ähnlicher Größenordnung geschätzt (SZ 20.02.21). Abstand zum Mitmenschen ist bis auf Weiteres das Gebot der Stunde, vor allem angesichts der gefährlichen neuen Mutationen. Im Gegensatz zum Orchestermusiker, der ja eigentlich vom Zusammenspiel, aber seit Monaten nur vom Kurzarbeitergeld lebt, haben es Pianisten einfacher. Die berühmte Einsamkeit des Langstreckenläufers wurde verfilmt. Die Einsamkeit der Pianisten gibt Halt. Pianistinnen sind autonom, spielen für sich und gestalten auf ihren 88 Tasten nicht nur die eigens für das Klavier komponierte Literatur. Die in Deutschland lebende US-Pianistin Claire Huangci wandte sich in dieser konzertarmen Zeit den Transkriptionen Franz Liszts zu, nahm sich die der Pastorale, seiner 6. Sinfonie vor, auf deren Titelblatt Beethoven schrieb: „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei“, also weniger Programmmusik als seelisches Widerspiegeln der Natur. Natürlich ist die Transkription, selbst wenn sie von Franz Liszt stammt, kein Ersatz für eine große Sinfonie mit vollem Orchester. Aber immerhin wird auf dem Klavier mit seinem im Vergleich Sinfonieorchester reduzierten Klang und Ausdruck unter den Händen dieser Pianistin die Struktur der Sinfonie doch durchsichtig und deutlich. Das „Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande“ des 1. Satzes entwickelt sich schnell vom zunächst eher anmutig ungetrübt harmlosen Klavierstück zu einem vollgriffigem, welches weite Bereiche der gesamten Klaviatur in Beschlag nimmt.
 
Mit seinen monumental schwierigen Stücken reiste Franz Liszt, dieser pianistische Paganini und berühmteste Klaviervirtuose Europas des 19. Jahrhunderts, in die Metropolen: von St. Petersburg über Königsberg, Berlin, Paris, Wien bis nach Konstantinopel. Immer lag ihm das Publikum, vor allem das weibliche, begeistert schreiend zu Füßen, gierend nach einer Locke aus seinem Haar, worunter das volle, maestrale Haupthaar bis zuletzt nicht erkennbar gelitten hat. Heinrich Heine hielt dieses Verhalten für krankhaft und dichtete den Zuhörerinnen die Lisztomanie an, die als medizin-musikhistorische Krankheit weitgehend verschwand, aber heutzutage ansatzweise noch gelegentlich Teenager bei Popmusik befällt.
 

Claire Huangci - Foto © Hitomi Image

Im Andante molto (Scene am Bach) entfaltet die Melodie zwischen Baß und Höhen unter den Händen von Claire Huangci die ungetrübte Lyrik Beethovenschen Seelenlebens. Im flotten Scherzo wird das lustige Fest der Landleute lebendig. Beglückend, wie die flinken Läufe energisch, ausdrucksstark und nuanciert diese Szene charakterisieren, obwohl das Klavier die sinfonische Dorfkapelle nicht vollständig ersetzen kann. Auffällig hier der fehlende Schlußakkord, der erst zu Beginn des folgenden Stücks zu hören ist.  
Endlich Gewitter, Sturm: Da wird im Allegro die gesamte Virtuosität aufgeboten. Hände und Finger fliegen hinauf und hinunter bis sich nach musikalischem Regenschauer Natur, Pianistin und Zuhörende wieder beruhigen und mit frohem und dankbarem Gefühl die Sinfonie für Klavier endet. Diese wunderbare Aufnahme kann das Publikum allein zu Hause vor hoffentlich geeigneten Lautsprechern unter Einhaltung der wichtigsten Corona-Regel, des Abstandshaltens genießen. Die Aufnahme erfolgte im Studio des SWR und wird am 19.03.2021 leider nur auf digitalen Plattformen veröffentlicht. Das Erlebnis des Konzerts im Saal mit Ohr, Auge, mit Flügel und der leibhaftigen Pianistin ersetzt die Aufnahme nicht.
 
Claire Huangci – „Pastorale“
Claire Huangci (Piano)
© 2021 Berlin Classics (Digitales Album)
Ludwig van Beethoven Sinfonie Nr. 6 F-Dur op. 68 in der Bearbeitung für Klavier von Franz Liszt. Vertrieb: Edel:Kultur - Eine Koproduktion mit SWR2
Weitere Informationen: www.bkw-net.de/