Wie ein Edelweiß den Krieg überlebte

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Wie ein Edelweiß den Krieg überlebte
 
Von Hermann Schulz
 
Weil ich häufig mit Polen hier in Wuppertal zu tun habe und gut mit ihnen auskomme, fiel mir in diesen Tagen eine Szene aus meiner Kindheit ein. Sie hat mit dem ersten Polen in meinem Leben zu tun, aber auch mit meinem Vater, einem Missionar in den 30er Jahren am Tanganjikasee in Ost-Afrika. Mühsam errichtete er in einem verlassenen Ort sein Haus, Dachstuhl und Möbel von eigener Hand. Bald klagten ihm die Einheimischen, daß Löwen und Leoparden eine wahre Plage waren. Die Frauen auf den Feldern wurden angefallen, vor allem aber auch die Kinder, die oft vom Dorfplatz von den Raubkatzen weggeholt wurden.
Mein Vater war der einzige weit und breit, der ein Gewehr besaß, zugleich war er ein leidenschaftlicher Jäger. (In seiner Heimat im Wendland hatte er wegen Wilderei schon einige Wochen im Gefängnis gesessen. Aber davon hatte seine Missionsgesellschaft keine Ahnung!) Die Afrikaner waren dankbar, daß dieser Weiße bereit war, sie von den gefährlichen Raubtieren zu befreien.
Durch einen Artikel im Blatt der Neukirchner Mission hatte ein polnischer Händler aus Oberhausen namens Wischinski über meinen Vater und seine Jagden gelesen. Er schrieb ihm nach Ostafrika und bot seine Partnerschaft an, die kostbaren Felle zu vermarkten. Ein schwunghafter Handel über mehrere Jahre kam zustande.
Der polnische Partner brachte es fertig, die Felle über Belgien einzuführen, günstig zu vermarkten und, in der Nazi-Zeit keine Kleinigkeit, die Devisen nach Ostafrika zu schicken. Welche Tricks er dazu benutzte, ist mir verborgen geblieben. Nun war mein Vater immer in Geldschwierigkeiten; seine Missionsgesellschaft war arm. So mußte er z.B. seinen Plan, eine Versuchsfarm zu gründen, jahrelang wegen Geldmangel verschieben. Oft kam sein Gehalt aus Deutschland verspätet an oder um die Hälfte reduziert. Denn diese Missionsgesellschaft zahlte nur das, was an Spenden eingegangen war.
Wischinski und mein Vater sind sich nie persönlich begegnet.
Von dem Geld, das der polnische Partner schickte, baute mein Vater eine Schule oder kaufte seiner schönen Frau ein Kleid. Außerdem waren Kinder zu versorgen, Medikamente für kranke Afrikaner mußten finanziert werden. Zwischen dem Polen und dem Missionar entwickelte sich über das Geschäftliche hinaus eine Freundschaft, ein reger Briefwechsel, auch über Privates. Offenbar geschah alles in gegenseitigem Vertrauen.
Mein Vater starb auf der Heimreise 1938, kurz nach meiner Geburt. Aus eigener Ernte hatte die Familie drei Sack Roh-Kaffee mitgebracht. Ich erfuhr später, daß Wischinski sie meiner Mutter zu einem fairen Preis abkaufte.
1942 war ich an einem Vormittag mit meiner Mutter allein zu Hause am Niederrhein, die Geschwister in der Schule. Da klingelte es an der Tür. Ein Mann stellte sich vor. Er sei jener Wischinski, mit dem mein Vater über einige Jahre Handel betrieben hatte. Er bat darum, das Grab meines Vaters besuchen zu dürfen. Meine Mutter war sofort bereit, ihn zu begleiten, sie kannte ja seinen Namen und seine Geschichte.
Gemeinsam marschierten wir zum Friedhof, der nicht weit entfernt war; ich in der Mitte zwischen meiner Mutter und Herrn Wischinski. Er hatte die ganze Zeit eine Aktentasche unter dem Arm.
Dann standen wir vor dem schmucklosen Grab meines Vaters. Was dann passierte, werde ich nie vergessen:
Der Pole fiel auf dem Rasenstück vor dem Grab auf die Knie, bekreuzigte sich mehrfach auf katholische Art, und öffnete seine Tasche. Zuerst sah ich nicht, was er da herausholte, denn er kniete mit dem Rücken zu uns.
Aus seiner Aktentasche holte er eine Pflanze. Meine Mutter murmelte erstaunt: „Ein Edelweiß!“ Das war damals eine seltene Kostbarkeit.
Herr Wischinski pflanzte die Blume auf das Grab meines Vaters. Er hatte auch eine Flasche mit Wasser dabei und versorgte die Pflanze.
Jetzt sah ich, daß ihm Tränen über das Gesicht liefen. Er bekreuzigte sich noch einige Male, stand auf und umarmte meine Mutter und mich.
Diese Szene auf dem Friedhof ist für mich unvergeßlich. Die seltene Blume allerdings, das kostbare Edelweiß, hatte keine lange Lebensdauer: Eine Woche nach unserem Besuch am Grab fiel eine Bombe genau auf die Grabstelle. Der Sarg meines Vaters ging in tausend Stücke.
Das Edelweiß aber hat in meiner Erinnerung für immer überlebt! Und der fromme Pole, der vor dem Grab meines Vaters kniet, auch. Seit diesem Erlebnis habe ich Katholiken nicht mehr mit Mißtrauen betrachtet, wie es sonst am Niederrhein üblich war. Sogar eine katholische Frau geheiratet
 
Hermann Schulz leitete viele Jahre den Peter Hammer Verlag, er lebt als Autor von Kinder- und Jugendbüchern in Wuppertal. Im August 2021 erscheint sein neuer Roman „Therese. Das Mädchen, das mit Krokodilen spielte“.