Traumreise

Unterwegs in einem fremden Land (1)

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Traumreise
 
Unterwegs in einem fremden Land (1)
 
Warum gehen manche jungen Leute auf Reisen? Heute gibt es sicher andere Beweggründe als in den 50er Jahren. Da brach ich zu einer Reise auf, die nach meiner Vorstellung mindestens ein Jahr lang dauern sollte, ohne daß ich mir geografische Grenzen gesetzt hätte.
 
Mein Antrieb war der Verdruß, eine autoritäre freudlose Nachkriegsgesellschaft ertragen zu müssen und die Hoffnung, irgendwo auf der Welt könnte es vielleicht besser sein.
 
Dazu Fernweh, falls es das gibt, Neugier auf die Welt da draußen!
 
Der Abschied war nicht einfach: ich hatte schon eine ‚feste Freundin‘, die aber keine Versuche machte, mich von meinem Vorhaben abzubringen. (Nur ein Schulkamerad bemerkte, das Jahr würde mir später in der Rente fehlen! Was mich empörte! Wer denkt schon mit 20 an die Rente?!)
 
Nach der Rückkehr heirateten wir und haben drei Kinder.
 
Ich war gerade 20 Jahre alt geworden, hatte meine Lehre als Buchhändler abgeschlossen, und ging in den Bergbau, weil man damals ‚Unter Tage‘ das meiste Geld verdienen konnte. Mit einem gewissen Stolz zeige ich heute das ‚Bergmannsbuch‘ meinen Kindern und Enkeln: Sechs Monate Knochenarbeit, und 30 Zentner Deputat-Kohle.
 
Türkei
 
Daß mein erstes Ziel auf dieser ‚Weltreise‘ die Türkei wurde, hatte praktische Gründe: Mein mühsam verdientes Geld reichte aus, meine Schulden zu bezahlen und für eine Fahrkarte bis Istanbul (ohne Rückfahrkarte). Darüber hinaus hatte ich noch, wenn ich mich recht erinnere, 200 Deutsche Mark. Ich stellte mir vor, von Istanbul aus könnte ich gewissermaßen ‚zu Fuß‘ nach Asien gehen, ohne erneute Kosten für den Transport. Solche albernen Spekulationen beschäftigten mich tatsächlich.
 
Meine gütige Schwester Margret schenkte mir noch einen Fotoapparat und eine Luftmatratze, die ich aber bald verkaufte.
In der Neuen Ruhr-Zeitung (NRZ Essen) hatte ich einen Artikel gelesen. Da war die Rede von der Stadt Antalya im Süden der Türkei, da stünden kleine Häuschen am Strand von Konyaalti Touristen außerhalb der Reisezeit kostenlos zur Verfügung. Als Kontaktperson war ein Kemal Akalin genannt, Deutschlehrer in Antalya. Dem schrieb ich und er antwortete: Ich sei natürlich willkommen!
 
In der Eisenbahn von Griechenland nach Istanbul freundete ich mich mit einem fröhlichen griechischen Mitreisenden an; er sei Musiker und würde in der Türkei Kollegen treffen. Als der Zug in Istanbul hielt, war ich dann doch sehr überrascht: mein neuer Freund Manolis Havtschimarkos wurde von einer Truppe vornehmer Männer und Frauen abgeholt; offenbar war er unter Musikern eine bekannte Persönlichkeit. Er kam noch gerade dazu, mir seine Heimatadresse in der Stadt Volos in die Hand zu drücken und mir zu beteuern, wir würden Freunde bleiben. Ich habe ihn nicht wiedergesehen, aber auch nie vergessen …
 
Von heute aus betrachtet, waren meine Reisevorbereitungen jämmerlich. Mir war nicht in den Sinn gekommen, einen Reiseführer anzuschaffen. Das ‚pure Leben‘ sollte mein Reiseführer sein! So passierte es, daß ich an einigen weltberühmten Sehenswürdigkeiten, von denen ich später erfuhr, ahnungslos vorbei reiste. Nur durch einen Zufall spielte mir jemand die Adresse des deutschen Seemannspfarrers in Istanbul zu. Er hatte eine Wohnung unterm Dach im Gebäude, wo auch der deutsche ‚Club Teutonia‘ untergebracht war. Ich schlich mich am vornehmen Club vorbei, der Pfarrer war nicht zu Hause, ich schlief auf der Treppe ein, bis er gegen Mitternacht auftauchte und mir tatsächlich Schlafgelegenheit für einige Nächte  bot. Bis ich mich mit dem Bus nach Antalya aufmachte.
 
Im Bus passierte es, daß mich ein türkischer Mitreisender ansprach, vermutlich weil er sah, daß ich ein deutsches Buch auf dem Schoß hatte. Der Mann hieß Sadi Irmak, der Übersetzer von Goethe und Nietzsche, und wurde Jahre später für kurze Zeit Präsident des Landes.
 
Angesichts meiner mageren Finanzen hatte ich Sorge, weil ich in Antalya die ersten Nächte in einem (billigen) Hotel übernachten mußte. Denn, so erfuhr ich bald, eines der Häuschen am Strand dürfte ich erst beziehen,, wenn ein Wächter gefunden wäre. Die Stadtregierung sei für meine Sicherheit verantwortlich. Schließlich saß bald unweit meiner Bleibe ein kleines Kerlchen, unbewaffnet, in einem engen Schützenhäuschen. Hin und wieder half er mir, türkische Vokabeln zu pauken; so vertrieben wir uns die Zeit. Von Gefahren keine Spur.
 
Täglich ging ich zu Fuß in die Stadt, heute eine Millionen-Metropole mit Flughafen und Tourismus, damals hatte Antalya kaum mehr als 5.000 Einwohner, die Bauern am Stadtrand inbegriffen, und war sehr übersichtlich.
 
Zunächst mußte ich ein paar Möbel beschaffen, Bett, Tisch und Stühle, denn die drei Räume meines Bungalows waren leer. Aber ich war ja offen für Abenteuer. Und die ergaben sich auch bald: Ich ließ mir bei einem Friseur die Haare schneiden; im Sessel neben mir saß ein riesiger Kerl, der sich rasieren ließ, mich auf Englisch ansprach und sich mit Nurretin Tekin Kerimoglu vorstellte. Umstandslos und ohne große Erklärungen (er sprach nur gebrochen Englisch) nahm er mich mit zu sich nach Hause. Zu meiner Überraschung stellte er mir seine deutsche Frau vor: Sie war die Tochter des damaligen bayerischen Kulturministern Alois Hundhammer, die sich in einem amerikanischen Club in München in den stattlichen türkischen Offizier und Großgrundbesitzer verliebt hatte.
 
Während meiner Zeit in Antalya wurde Nuri, wie ihn alle nannten, und seine Frau für mich auf zwei Ebenen wichtig:  Alle zwei, drei Wochenenden ging Nuri mit anderen Jägern auf Wildschweinjagd im Taurus-Gebirge. Mir war sehr willkommen, daran teilzunehmen; die Jagdgesellschaft bestand aus rund 20 Männern (Treibern und Schützen) aus allen möglichen Berufsgruppen. Einige hatten nicht einmal ein Gewehr!
 
Die geschossenen Tiere, manchmal ein Dutzend an einem Tag, blieben im Wald liegen, denn Muslime essen bekanntermaßen kein Schweinefleisch! Vermutlich taten sich Raubvögel, Füchse oder Wölfe an den fetten Tieren gütlich. Ich selbst hatte es abgelehnt, mich an der Schießerei zu beteiligen, zumal ich keinerlei Erfahrung als Jäger und bisher nur mit einem Luftgewehr ein bißchen herumgeballert hatte. Nur ein Mal konnte ich einem angeschossenen Eber den Fangschuß verpassen, bin aber nicht stolz darauf.
 
Nachdem ich mich mit dieser Jagdgruppe mehr oder minder angefreundet hatte, fragte ich bescheiden, ob ich nicht eines der erlegten Schweine für mich mitnehmen könnte. Nuri, der in diesen Kreis alles bestimmte, verpflichtete einen Metzger unter den Jägern, mir beim Schlachten zu helfen. Bevor aber der Lastwagen mit dem angebundenen toten Tier an meinem Häuschen ankam, sprang der Metzger vom Wagen und verschwand im Gebüsch. Ein Schwein zu schlachten, wäre für ihn eine Zumutung gewesen!
 
Ich besaß lediglich ein Taschenmesser und machte mich an die mühsame Arbeit. Ich schlachtete viele Stunden, bis zum Sonnenaufgang, die Arme bis obenhin blutig. Alles, was ich nicht eindeutig identifizieren konnte, packte ich in eine Plastikplane und brachte es in die Wildnis, möglichst weit entfernt von meinem Häuschen.
 
Trotz reichlich Abfall hatte ich gut 20 Kilogramm pures Fleisch, das ich am nächsten Morgen in einen Match-Sack packte, den Sack schulterte und mich auf den Weg zum Kühlhaus machte. Der Geschäftsführer fragte, welche Art Fleisch ich in meinem Sack hätte. „domuz eti“, Schweinefleisch. Mit Bedauern in der Stimme sagte er, das könne er nicht einfrieren, wenn das die anderen Kunden erführen, würden sie sofort kündigen. Was tun? Also ging ich in ein Café, trank einen Cay (Tee), rauchte eine Zigarette der billigen Marke Birinci, und ging nach einer halben Stunde erneut zum Kühlhaus. Dieses Mal hätte ich „dana eti“, Rindfleisch! „Komm rein!“, beschied mich der Kontrolleur des Ladens und vermietete mir ein Kühlfach.
 
Nebenbei bemerkt: Sowohl Nuri wie auch einige andere Jagdgefährten meldeten sich einige Male abends bei mir, um das köstliche Schweinefleisch zu probieren! Natürlich bei verschlossenen Fensterläden.
 
Fast gleichzeitig gab es neue folgenreiche Kontakte: In einem Café traf ich einen jungen Ingenieur, der in Deutschland studiert hatte: Mehmed Rasi Peker. Als er am zweiten oder dritten Tag erfuhr, wie wenig Geld ich besaß, bekam er einen gehörigen Schreck und beschloß, ich müßte sofort arbeiten und Geld verdienen. Täglich kam ich in sein Büro, der Devlet Su Isleri (Staatliche Wasserwirtschaft). Er drückte mir ein englisches Buch über den Bau von Staudämmen und Wehren in die Hand, das sollte ich ins Deutsche übersetzen, er würde es dann später ins Türkische übertragen. Ich ahnte: es war eine reine Arbeits-Beschaffungs-Maßnahme. Bis zu meiner Abreise aus Antalya schaffte ich vielleicht ein Drittel des Buches und wurde dafür bezahlt; ich bin sicher, daß meine Arbeit ‚für die Katz‘ war und nie benutzt wurde!


Gehen Sie am kommenden Sonntag an dieser Stelle weiter mit auf die Traumreise!