Traumreise

Unterwegs in einem fremden Land (2)

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Traumreise
 
Unterwegs in einem fremden Land (2)
 
In Antalya hatte sich herumgesprochen, daß am Strand von Koniyalti ein Deutscher sitzen würde, meist mit einem Buch vor der Nase. Deutsch wurde in dem Jahr, es war 1960, zweite Fremdsprache an den Oberschulen. Die armen Lehrer hatten - von wem auch immer - als Einführungs-Lektüre die Kleist-Erzählung Michael Kohlhaas bekommen. Ein Text, der die meisten Lehrer, und mehr noch die Schüler, völlig überforderte Das wäre auch bei deutschen Kindern zwischen 12 und 14 Jahren nicht anderes gewesen.
 
Man fragte mich, ob ich nicht für den Gebrauch in den Oberschulen (es gab, wie ich mich erinnere, eines für Mädchen und eines für Jungen) einfache Texte schreiben könnte, mit Themen aus der Umgebung von Antalya. So schrieb ich im Laufe der Zeit rund zwanzig kurze einfache Geschichten, über die Jagden in den Bergen, Tage auf den Baumwollfeldern, Fischfang oder dem Geschehen auf dem Markt.
 
Mein neuer Freund Nuri hatte mich einige Male mitgenommen auf seine Baumwollfelder, wo ich die Gelegenheit hatte, wie in meiner Kindheit im Wendland mit Pferden auszureiten. Also an Themen und örtlichen Erfahrungen fehlte es mir nicht! Zu jeder Redaktionssitzung erhielt ich ein vorzügliches Essen in einem Restaurant, das ich mir sicher nicht hätte leisten können. Die Texte wurden auf Wachsmatrizen abgeschrieben und in erstaunlicher Auflage vervielfältigt und wie ich später erfuhr, jahrelang benutzt.
 
Bei einer dieser Arbeitssitzungen tauchte auch eine Frau auf, vielleicht ein paar Jahre älter als ich, wunderschön anzusehen, etwas schüchtern! Ayse Kerestecioglu! Durch einen der Lehrer, meinem Freund Mehmed Özgen, ließ sie mich bald wissen, sie hätte sich in mich verliebt. Diese Nachricht hatte eine verwirrende Wirkung auf mich: Wie sollte ich reagieren, wenn ein solches Geständnis von einer so attraktiven Frau kommt? Ich fand sie toll, hätte sicher gern mit ihr ein bißchen ‚herumgemacht‘ oder sogar geschlafen, aber ich wollte sie keinesfalls unglücklich machen! Wenn wir uns zu einer Arbeitssitzung in einem Restaurant trafen, oder mit anderen im Park, konnten wir uns manchmal unter dem Tisch an den Händen halten oder die Knie streicheln; mehr war in der damaligen Türkei, vor allem in ländlichen Gegenden, nicht möglich.
 
Dann nahte der Abschied. Ich hatte eine Passage 4. Klasse auf dem Fährschiff Güneysu gebucht, das mich bis Iskenderun bringen würde. Ich würde, so hatte man mir gesagt, mit meinem Schlafsack auf dem Deck schlafen. Die Vorstellung störte mich nicht, auch die Nächte waren ja warm! Am Abend vor meiner Abreise ließ mich Ayse durch einen heimlich zugesteckten Zettel wissen, ich möge bitte am Abend zu ihrem Haus zum Essen kommen. Ich sollte, wenn es dunkel wurde, den hinteren Eingang nehmen! Verwirrende Gedanken!
 
Ich war pünktlich da, ein Dienstmädchen öffnete und führte mich ins Wohnzimmer. Auf einem Blech verbreitete Glut eine angenehme Wärme. Ayse war hinreißend angezogen, sie umarmte und küßte mich und weckte alle möglichen Vorstellungen - bis nach einer Viertelstunde ihre Mutter das Essen brachte. Die alte Dame verließ den Raum nicht mehr. Ich hätte es wissen müssen! An dem Abend war ich enttäuscht und erleichtert zugleich.
 
Vielleicht zwanzig Personen begleiteten mich auf das Schiff Güneysu, um mich zu verabschieden; Lehrer, Schüler, auch ein deutsches Ehepaar mit Namen Nowitzki, das wenige Tage vorher in Antalya angekommen war, um mit ihrer Tochter Katrin Urlaub zu machen. (Er war Ingenieur und arbeitete in der Waffenfabrik in Kirikkale). Wir waren sogleich ein Herz und eine Seele und ich mußte versprechen, sie in Ankara zu besuchen. Weil ich in die Nachbarländer mit leichtem Gepäck reisen wollte, nahmen sie meinen Koffer mit nach Ankara.
 
Als die Begleitung unter Händeschütteln, Herzen und Küssen (auch Ayse war gekommen!) von Bord gegangen war, kam der Erste Offizier zu mir:
 
„Efendim! Ihre Freunde haben ihr Ticket umgetauscht. Sie haben eine eigene Kabine in der 2. Klasse, und da Sie in der 2. Klasse auf dieser Fahrt der einzige Fahrgast sind, kommen Sie zum Essen doch in die 1. Klasse!  Der Stuart wird Ihnen einen Tisch zuweisen …“!
 
Neben einem griechischen Priester, einem deutschen Ehepaar aus Würzburg (Krawattenproduzenten), saßen am Tisch, der mir zugewiesen wurde, zwei ausnehmend gutaussehende Damen, beide vielleicht im Alter von Mitte 20. Sie interessierten sich vom ersten Augenblick an nur für mich, wollten alles von mir wissen, meine Herkunft, meine Reisepläne, meine Träume, mein Beruf. Es zeigte sich, daß sie enorm belesen waren, die französische und deutsche Literatur kannten und mir gleich am ersten Abend bei Drinks an der Bar ankündigten, sie würden, da das Schiff in allen Häfen einige Stunden Aufenthalt hätte, Ausflüge mit einem Mietwagen machen; sie würden sich freuen, wenn ich mich ihnen anschließen würde.
 
So lernte ich einen guten Teil der Küstenstädte und Orte im Inneren des Landes kennen; die Wasserfälle von Tarsus zum Beispiel, und vieles mehr, woran ich mich nicht erinnere. Es waren wunderbare Stunden mit den beiden, immer begleitet von einem gut gefüllten Picknick-Korb mit erlesenen Speisen und genug Rotwein.
 
Beim Einlaufen der Güneysu in Iskenderun stand ich an der Reling und wartete auf die beiden Damen, um mich zu verabschieden. Neben mir stand ein Araber, der mich auf Englisch ansprach:
 
„Sie haben eine tolle Begleitung gehabt. Sie haben allen Neid der Männer auf sich gezogen! War es sehr teuer?“, fragte er.
 
„Wieso teuer! Die Damen haben die Drinks und Taxen und alles andere bezahlt.“
 
„Und das andere?“, fragte er.
 
„Was meinen Sie?“ fragte ich begriffsstutzig.
 
„Na! Was Frauen und Männer so machen!“
 
„Da hat sich nichts abgespielt!“, sagte ich, es entsprach der Wahrheit.
 
„Aber Sie wissen doch, daß die beiden Prostituierte sind? Und auf diesem Schiff immer für die Fahrgäste da sind?“
 
Davon hatte ich keine Ahnung! (Mit meiner ‚Weltläufigkeit‘, die ich anstrebte, war es wohl noch nicht so weit her!)
 
In dem Augenblick kamen meine beiden Freundinnen. Wir verabschiedeten uns unter Herzen und Küssen!
 
„Sie sind ein verdammt glücklicher Mann!“, rief mir der Araber nach.
 
Mit dem Bus fuhr ich in Richtung Syrien, zunächst bis Antakya (das frühere Antijochia). Hier hatte Paulus seine erste Kirche gebaut; als ich sie besichtigte, schlief der Wächter auf dem Altar. Ich ließ ihn schlafen. Unvergesslich das Museum für alte römische Mosaiken. Da stand im Vorgarten auch eine Frauenfigur, fast lebensgroß, die sich mir tief eingeprägt hat.
 
Syrien, Jordanien, Irak, Iran, Libanon
 
Ich bin wenig geneigt, über diesen Teil der Reise ausführlich zu schreiben. Das mag mit den starken türkischen Erlebnissen zu tun haben, oder mit ein paar unangenehmen Ereignissen, Betrügereien in den arabischen Ländern, durch die ich mein ganzes Geld verlor. Die deutsche Botschaft in Beirut war nicht bereit, mir einen Kredit zu geben, auch der evangelische Pfarrer der deutschen Gemeinde von Beirut, ein Studienkollege meiner Schwester, wies mich rüde ab. Und ich war zu stolz, mich bei einem solchen Versager aufs Betteln zu verlegen. Unerwartet allerdings nahm ich in den Straßen von Damaskus an einem Stück politischer Weltgeschichte teil: Ein Auto-Konvoi fuhr durch die jubelnden Menschenmassen, ich sah zwei Personen der damaligen Weltgeschichte: Gamal abd el Nasser und Pandit Neru, den Präsidenten von Indien.
 
Wie eine Heimkehr
 
Nach fast drei Monaten in der arabischen Welt stand ich schließlich wieder an der türkischen Grenzstation. Die Zollbeamten erkannten mich wieder. Sie erinnerten mich daran, mich ermahnt zu haben, doch bei zivilisierten Menschen in der Türkei zu bleiben und mich nicht mit den räuberischen Arabern herum zu schlagen. Sie bedauerten mein elendes Aussehen und boten mir ein Nachtlager, veranstalteten ein Fest zur Feier der Rückkehr des unbelehrbaren Deutschen aus den Fängen der räuberischen Araber. Sie verpflichteten nach drei Tagen einen Personenwagen, mich mindestens bis Iskenderun mitzunehmen.
 
Mir war es gesundheitlich seit Beirut tatsächlich nicht gut gegangen, hatte zwei Tage und Nächte in den ausgewaschenen Höhlen am Meer verbracht, bis sich mein Magen beruhigt hatte. Da lebte ich von trockenem Brot. Nun war ich froh, auf dem Rücksitz des bequemen amerikanischen Wagens zu sitzen, in meinem Reclam-Heften zu lesen oder zu schlafen. Die beiden Fahrer, ein Türke auf dem Weg zu seiner Familie in Istanbul und ein Araber, der nach Paris wollte, beschlossen, in Iskenderun zu übernachten und buchten ein Zimmer in einem Hotel. Sie merkten wohl an meinem Verhalten, daß ich mittellos war und boten an, in ihrem Zimmer für mich ein Notbett aufstellen zu lassen. Dann schlenderten sie mit mir gemächlich zu einem Restaurant; selbstverständlich war ich eingeladen.
 
Mir ging beschämt durch den Kopf: Wann würde ich jemals solche Großzügigkeiten durch gute Taten meinerseits vergelten können? So bald ergab sich dazu allerdings keine Gelegenheit!
 
Von ihren Gesprächen in Arabisch oder Türkisch meiner beiden Freunde bekam ich wenig mit.
 
Nach dem Essen bestellten sie eine Pferdedroschke, ich kam selbstverständlich mit und stieg ein. Nach einer Viertelstunde Fahrt waren wir auf einem jetzt schummrigen Platz, wo sich eine Menge aufgeregter Männer und streunende Köter herumtrieben. Meine beiden Reisenden drängelten sich bis an den Eingang zu einem großen Gebäude vor und verlangten Einlaß. Ein riesiger Türsteher gewährte uns nach kurzer Diskussion den Eintritt. Mindestens ein Geldschein wechselte den Besitzer.
 
In dem großen hellen Saal saß gut ein Dutzend schöner junger Frauen, alle leicht bekleidet, hochhackige Schuhe; einige in Gesprächen mit Männern, andere widmeten sich der Maniküre oder tranken Tee. Meine beiden Freunde boten mir an, ich könnte mir eine der Damen aussuchen, ich sei eingeladen!
 
Ich war entweder zu sehr verklemmt oder mir ging es gesundheitlich tatsächlich noch nicht gut. Ich würde, so sagte ich ihnen mit Leidensmine, hier auf einem Stuhl Platz nehmen und lesen, sie sollten sich nicht um mich kümmern. Sie verschwanden denn auch mit den Damen ihrer Wahl in den hinteren Räumen.
 
Ich war bisher im Orient noch in keinem Bordell gewesen und sah mich neugierig um. Als erstes fiel mir eine große Wandtafel mit Preisen auf. Ich verstand leider nicht alle Köstlichkeiten der Liebeskunst, die da beschrieben wurden, bedauerte meine mangelnde Erfahrung, aber ich verstand den letzten Satz:
 
„Studenten, Schüler und Soldaten bezahlen halbe Preise! Der Bürgermeister.“
 
Ich wandte mich wieder meiner Lektüre zu, wurde aber von den Damen immer wieder mit Angeboten abgelenkt, die ich mit Leidensmine ablehnte, mir wäre es nicht gut gegangen und ich sei noch nicht wirklich wieder gesund.
Über mir, auf einem Brettchen, hatte ein Radio geplärrt, arabische oder türkische Musik. Da unterbrach ein Sprecher die Musik, ich verstand nicht, was er sagte, aber dann kam die Überraschung: Freddy Quinn sang das berühmte Lied „Die Gitarre und das Meer“. Ich hatte lange kein deutsches Lied mehr gehört, kaum Deutsch gesprochen, war einsam und krank gewesen, mittellos in der Fremde! – und nun ein solches Lied! Ich konnte nicht verhindern, daß ich in Tränen ausbrach und beide Hände schluchzend vor das Gesicht schlug. Das hatten die Damen im Raum mitbekommen und beeilten sich, diesen weinenden jungen Deutschen zu trösten. Sie knieten vor meinem Stuhl, zogen meinen Kopf an ihre Brüste, streichelten mich an allen möglichen Orten.
 
Da sah ich durch das Gewirr von Armen und Brüsten, daß meine Reisegefährten verschwitzt aus den hinteren Räumen kamen. Sie blieben vor mir stehen.
 
„Was bist Du für ein Mensch! Wir zahlen teuer für unser Vergnügen, und Dir gibt man alles kostenfrei.“ Die Damen ließen mich unter Herzen und Küssen mit meinen Freunden ziehen.
 
Nach dem Frühstück brachten mich die beiden an eine belebte Wegkreuzung, wo die Chancen auf Mitfahrgelegenheit gut waren. Vielleicht war ich zu abgerissen und abgemagert, vielleicht auch verwahrlost und ohne Mut. Als ich bis zum Abend keinen Transport fand, ging ich in den Ort Iskenderun zurück. Es war vielleicht Zufall, daß ich am Bahnhof landete. Auf dem Vorplatz spielte der Leiter der Station mit einem Freund das beliebte Brettspiel Trick-Track. Ich setzte mich zu ihnen uns sah zu.
 
Irgendwann fragte ich vorsichtig nach einer Schlafgelegenheit, ich hätte allerdings kein Geld. Der Vorster der Station zeigte auf einen Wagon Erster Klasse, der etwas abseits abgestellt war. „Da kannst Du schlafen“, sagte er, „aber um sechs Uhr fährt der Zug ab. Dann mußt Du raus sein!“ Ich versprach es und machte es mir auf den Polstern bequem.
 

Gehen Sie am kommenden Sonntag an dieser Stelle noch einmal mit auf die Traumreise!