Traumreise

Unterwegs in einem fremden Land (3)

von Hermann Schulz

Hermann Schulz - Foto © Frank Becker
Traumreise
 
Unterwegs in einem fremden Land (3)
 
Als ich erwachte, war es draußen taghell. Der Zug fuhr. Ich schlug die Augen auf. Um mich herum lächelnde Männergesichter. Militärs.
 
Ich sprang auf und rief: „Wo fahren wir hin? Ich muß raus!“
 
„Beruhige Dich“, sagte einer von ihnen, offensichtlich ein Offizier. „Wo willst Du denn hin?“
 
„Nach Ankara!“
 
„Dann kannst Du bis Mersin mitfahren und dann aussteigen. Wir tun Dir nichts, bezahlen mußt du auch nichts. Wir fahren dann weiter bis zur Grenze am Kaukasus. Da sind wir stationiert.“ Man brachte mir heißen Tee und Simit und löcherte mich mit Fragen nach meinen Vorhaben und Plänen. Daß ich Kriegsdienst-Verweigerer war, verschwieg ich besser.
Damals waren Deutsche in der Türkei enorm angesehen! Wegen der Waffen-Brüderschaft im 1. Weltkrieg.
 
Irgendwann nahm mich ein Klein-Lastwagen mit, der Gurken geladen hatte. Der Fahrer aß fröhlich eine Gurke nach der anderen, und ich hatte enormen Hunger. Ich fragte ihn nach einem Stück Brot. Nein, Brot hätte er nicht, aber ich könnte ja Gurken essen. Daran habe ich mir so sehr den Magen verdorben, daß ich ein geheimes Waldstück an einem Bach aufsuchte und die nächsten Tage und Nächte aus guten Gründen abgeschieden von der übrigen Welt verbrachte. Seit dieser Erfahrung vermeide ich es, Gurken zu essen!
 
Irgendwann kam ich morgens früh am Stadtrand von Ankara an. Alle paar Minuten bot mir ein Taxifahrer seine Dienste; ich beteuerte, kein Geld zu haben (was man einem Deutschen kaum glaubte!), bis mich ein Fahrer ohne Bezahlung zu meiner Adresse (Yesilyourt Sokak) brachte, dort lebte die Familie Nowitzki. Ein fröhliches Wiedersehen! Und ein nützliches: Ich konnte endlich eine Waschmaschine benutzen, was überfällig war.
 
Dann schlief ich ein paar Stunden. Nowitzkis würde am nächsten Tag nach Akcacoca ans Schwarze Meer fahren, dort ihren Jahresurlaub verbringen, ob ich Zeit und Lust hätte, mich ihnen anzuschließen. In ihrem Auto sei Platz genug, auch wenn sie noch eine ältere befreundete Dame abholen würden, die das gleiche Reiseziel hätte. Sie hätten eine Etage gemietet, wo man mich ohne Probleme unterbringen könnte.
 
Diese Dame, die wir bald an Bord nahmen, sprach so perfekt Deutsch, daß ich sie für eine Deutsche hielt – bis sie an einer Tankstelle Türkisch redete und ich ihr deshalb Komplimente machte! „Ich bin Türkin“, beschied sie mich.
Es war der Beginn einer lebenslangen Freundschaft mit Fahrünisa (Fahriye) Bükey. Obwohl sie Muslimin war, wurde sie Patentante meiner ersten Tochter Susanne.
 
In der Wohnung, die Nowitzkis angemietet hatten, bezog ich ein kleines Zimmer; an den meisten Aktivitäten der Familie (Vater, Mutter, Tochter Katrin (18 Jahre alt) nahm ich teil: Stunden am Strand, Besuche der Restaurants, Einkäufe auf dem Basar, Treffen mit Fahryie, die bald ihre beiden Enkel um sich hatte. Was diese beiden Jungens angeht, hatte sie Sorgen und teilte sie mit mir: Beide, 9 und 11 Jahre alt, waren enorm übergewichtig. Ob ich nicht mit Asaf und Ali eine Wanderung – wie bei der Wandervogel-Bewegung, die sie aus ihrer Studienzeit in Deutschland kannte – machen könnte. Ich war froh, daß ich mich nützlich machen konnte.
 
Wir waren gut drei Wochen am Strand des Schwarzen Meeres unterwegs. Die beiden hatten die mitgebrachten Essens-Vorräte schon am ersten Abend aufgezehrt; jetzt wurde gegessen, was die Bauern unterwegs zu bieten hatten: Meistens Reis mit ein wenig Soße und Obst. Diese Wanderung, bei der sie beide sicher vier bis fünf Kilo abnahmen, hatte sie, wie sie mir später beteuerten, für ihr Leben geprägt. Zumindest die Freundschaft zu ihnen blieb erhalten.
 
(Asaf studierte Geologie und erhielt eine Professur in Berlin; Ali organisierte für das türkische Militär den Einkauf deutscher Waffen bei Rheinmetall.)
 
An den Abenden in Acakoca holte mich Fahryie häufig ab, mit einer Thermos-Liter-Kanne Raki (dem traditionelle türkischen Anis-Schnaps). In den Bergen gab es ein kleines Restaurant, das frische Fische anbot, die der Wirt vor den Augen der Gäste mit einem Netz aus dem Bach fing und zubereitete. Wenn die Fische verzehrt waren, war meistens auch die Liter-Kanne Raki leer und wir torkelten fröhlich in den Ort zurück. Fahriye kannte die französische und deutsche Literatur der 20er Jahre, kannte viele Autoren persönlich, hatte selbst ein abenteuerliches Leben, war die Ehefrau des türkischen Botschafters in Berlin, als Hitler an die Macht kam, kannte auch aus ihren Jugendjahren Mustafa Kemal, Atatürk.  Ihre Tochter Leyla vertraute mir unter vier Augen an, ich sei für ihre Mutter die Erinnerung an eine Liebe, die sie in den 20er Jahren in Berlin mit einem Deutschen erlebt hatte. Ich hatte ohnehin keinen Zweifel, daß wir uns sehr zugetan waren!
 
Leyla war Fahriyes einziges Kind und (nicht nur in meinen Augen) eine wunderschöne Frau. Ihre Mutter hatte frühzeitig ihren Mann verlassen und selbstständig gelebt; Leyla machte es genauso. (in meinem Buch ‚Iskender‘ habe ich später versteckte Liebeserklärungen für sie und ihre Mutter untergebracht.)
 
Vor meiner Wandertour mit Asaf und Ali hatte mir Fahriye ein bißchen Geld in die Hand gedrückt; trotzdem beschloß ich nach einigen Wochen, Acakoca zu verlassen und mir einen Job zu suchen; ich wollte nicht länger auf Kosten meiner Freunde leben. Auf einer einsamen Wanderung an der Küste entlang, bei der ich meine Zukunftspläne überdachte, standen plötzlich fünf, sechs junge Männer vor mir. Ich kannte sie alle, starke junge Kerle, es waren Fischer aus dem Ort, Freunde von Nowitzkis, wie ich mitbekommen hatte, mit denen sie sich häufig unterhielten und eine Art Freundschaft pflegten.
 
Also dachte ich mir nichts Böses, was sich schnell als Irrtum herausstellte. Sie waren schwer betrunken, pöbelten mich an, schubsten mich hin und her, wobei ich wegen der Steine bald das Gleichgewicht verlor. Es brauchte Zeit, bis ich begriff, woher ihre Aggression kam: Sie waren rasend vor Eifersucht: Ich würde mit der Tochter von Nowitzkis ‚Fiki Fiki‘ machen.
 
Hier sei angemerkt, daß Katrin N. tatsächlich eine attraktive Blondine war, die es liebte, sich aufreizend zu kleiden. Ich hatte nicht vor, irgendetwas abzustreiten, bekam auch keine Gelegenheit dazu: die starken jungen Kerle schlugen mich, bis ich blutend und bewußtlos am Boden lag.
 
Irgendwann werden sie abgezogen sein, das bekam ich nicht mit. Ich wachte zwischen den typischen großen Steinen am Strand auf. Es war Nacht. Ich rappelte mich hoch, fand den Weg zum Ort und zu meiner Herberge. Inzwischen waren Nowitzkis meinetwegen in Sorge und hatten die wichtigsten Restaurants vergeblich auf der Suche nach mir abgeklappert.
 
Pures Entsetzen, als sie mich sahen! Offensichtlich war mein Gesicht verschandelt und voller Wunden, ein Auge zugequollen, die Hose zerrissen, die Knie aufgeschlagen, der Hinterkopf blutete, meine Handflächen ebenso. Die drei begannen sofort meine Behandlung, klebten Pflaster, legten Verbände an, gaben mir gegen die Schmerzen Tabletten und planten, mich ins Krankenhaus zu bringen. Das lehnte ich ab, die Gründe weiß ich nicht mehr. Als ich gut verbunden endlich vor einem Teller heißer Suppe saß, führte Georg Nowitzki ein ernsthaftes Gespräch mit mir.
 
„Waren das Atalay und seine Freunde?!“ Ich nickte. „Willst Du sie anzeigen?“ Ich zuckte mit den Schultern, hatte dazu noch keine Meinung. „Hermann, wenn Du sie anzeigst, wandern sie für Jahre ins Gefängnis, ich habe mir mal angesehen, wie es da zugeht. Das wünsche ich niemanden!“ Ich sah auf.
 
„Was schlagen Sie vor?“, fragte ich.
 
„Das sind ja eigentlich nette Kerle, die mal durchgedreht sind. Wäre es in Ordnung, wenn sie sich bei Dir entschuldigen?“ Ich zucke mit den Schultern, was alles bedeuten konnte. Dann sagte ich: „Sie könnten mich ja ab und zu mal mit auf Fischfang nehmen! Wenn sie das machen, wäre es ok!“
 
Am nächsten Morgen kamen alle fünf mit gesenkten Köpfen zum Strand; ich war noch heftig verbunden. Nowitzki sprach Türkisch mit ihnen, strenger Ton, davon verstand ich nicht alles, sah aber die Erleichterung in ihren Gesichtern. Dann kamen sie auf mich zu und schüttelten mir die Hand. Sie kamen noch einmal zurück an den Strand und brachten einige Kilogramm Kirschen aus der neuesten Ernte und frische Simit. Dann trollten sie sich.
 
Ich bin zwei Mal mit ihnen aufs Meer gefahren, fand aber wenig Gefallen daran, zumal sie mir gegenüber immer noch irgendwie verklemmt waren.
 
Nowitzkis gaben mir ihren Wohnungsschlüssel, ich wollte mich auf die Suche nach einer Arbeit in Ankara machen. Da gab es die deutsche Buchhandlung Bergkalb. Ich traf den Chef persönlich an, der mich sogleich einstellen wollte. Aber er hatte einen weitergehenden Plan mit mir: Gerade war sein großes Touristenhotel in Istanbul fertig geworden, er wollte mich als Empfangschef einstellen. „Sie sprechen Türkisch, Deutsch und Englisch. Ein bißchen Französisch haben Sie schnell drauf. Wollen Sie denn ewig mit einem miesen Buchhändler-Gehalt leben?“ Das entsprach meiner Vorstellung von ‚Weltläufigkeit‘. Die Sache hatte einen Haken: Die Arbeitserlaubnis mußte ich von Deutschland aus beantragen! Mein Vorschlag, das Problem mit ein paar hundert Dollar auf echte orientalische Weise, also Bestechung, zu erledigen, stieß nicht auf seine Gegenliebe: „Keine krummen Sachen! Ich will langfristig mit Ihnen arbeiten. Reisen Sie nach Deutschland, alle Dokumente bereite ich vor, dann kommen Sie in zwei oder drei Wochen zurück!“
Bevor ich die Reise nach Deutschland antrat, besuchte ich noch Mehmed Rasi Peker, der inzwischen in Elmali (im Süden des Landes, nahe Finike) das Büro der DSI leitete. Auf dem Weg dorthin sah ich Ayse wieder. Wir waren beide traurig, weil unsere gegenseitige  Zuneigung trotz gutem Willen von beiden Seiten keine Hoffnungselemente enthielt. 
 
In Elmali erlebte ich eine türkische Gesellschaft, die noch um Einiges konventioneller war als das, was ich bisher erlebt hatte. Ein Beispiel dafür: Ich schlief im Haus der Familie von Mehmed, wo auch sein Vater und seine Mutter lebten. Eines Morgens wachte ich spät auf und öffnete ahnungslos die Tür zum Wohnzimmer, um ins Bad zu gelangen. Da saßen auf dem Fußboden vielleicht acht oder zehn unverschleierte Frauen. Sie schrien entsetzt auf, als ich im Schlafanzug in der Tür stand und rissen sich die Tücher vor die Gesichter.
 
Ich war zu tiefst erschrocken und verließ mein Zimmer erst wieder, als Mehmed mich befreite und beruhigte.
 
Von meiner Familie aus Deutschland hatte ich lange Zeit nichts gehört. Meine Mutter hatte mir noch geschrieben, ich möge ihr doch einen Teppich aus dem Orient mitbringen. Das hätte ich ja gern gemacht, es gab nur zwei Probleme: Den Preis für einen großen Teppich konnte ich nicht aufbringen und das Transportproblem lag für einen normalen Zugreisenden auf der Hand!
 
Also kaufte ich einen handgeknüpften kleinen Gebetsteppich, den meine Mutter allerdings nicht begeistert aufnahm. (Er liegt bis heute in meinem Arbeitszimmer.)
 
Meine Familie fand ich in einem schlimmen Zustand, erspare aber den Leserinnen und Lesern Einzelheiten. Mir wurde schnell klar: Ich mußte Verantwortung übernehmen. Weil ich möglichst bald das geliehene Geld für die Fahrkarte zur Heimreise dem freundlichen Seemannspfarrer erstatten wollte, mußte ich Geld verdienen. Als Verkäufer von Zeitungs-Abos ‚von Tür zu Tür‘ allerdings war ich wenig erfolgreich. Der spätere Bundespräsident Johannes Rau stellte mich ein. Für mich hieß das ‚vorübergehend‘, bis ich wieder in die Türkei reisen würde. Für die Fahrt im November vom Niederrhein nach Wuppertal lieh mir mein Bruder für eine Woche einen alten Soldatenmantel. Ich bat Johannes Rau um einen Vorschuß von 50 Mark, um mir einen gebrauchten Mantel zu kaufen. Er aber ließ mich böse abfahren: „So hatte  ich mir den Beginn unserer Zusammenarbeit eigentlich nicht vorgestellt, Herr Schulz! 20 Mark kann ich Ihnen privat leihen! Ich hoffe, daß es das erste und letzte Mal war, daß Sie mich angepumpt haben!“
 
Um Geld habe ich ihn nie wieder gefragt!
 
Es wurde eine feste Anstellung, nach einigen Jahren auch als Verlagsleiter und Nachfolger von Rau. Das habe ich trotz der Enttäuschung am ersten Tag nie bereut.
 
Ayse K. besuchte der Autor 25 Jahre später in Antalya; da saß sie im Rollstuhl, die Hände schrecklich von der Gicht zu Klumpen geformt. Beim Abschied zog sie seinen Kopf an ihre Brust und flüsterte: „Hala seni seviyorum!“
 

- Finis -