Zum herkömmlichen Advent paßte dieses Programm nicht. Aber es paßte.

Commedia dell‘ Arte mit dem Sinfonieorchester Wuppertal

von Johannes Vesper

Lucienne Renaudin Vary, Parick Hahn - Foto © Johannes Vesper

Commedia dell‘ Arte mit dem Sinfonieorchester Wuppertal
Bernd Alois Zimmermann – Astor Piazolla – Igor Strawinsky
 
4. Abonnementkonzert des Sinfonieorchesters Wuppertal
in der 159. Saison - So. 12. Dezember 2021, 11 Uhr
 
Von Johannes Vesper
 
Lucienne Renaudin Vary (Trompete) - Thomas Braus als Alfred Jarry (Conférencier) Sinfonieorchester Wuppertal - Patrick Hahn (Dirigent)
Iris Marie Sojer (Mezzosopran) - Adam Temple-Smith (Tenor) - Yisae Choi (Baß)
 
- Bernd Alois Zimmermann ›Musique pour les soupers du Roi Ubu‹
- Astor Piazzolla ›Maria de Buenos Aires‹. Suite ›Chin Chin‹
- Igor Strawinsky ›Pulcinella‹. Ballett in einem Akt für kleines Orchester mit drei Solostimmen nach Musik von Giovanni Battista Pergolesi
 
Zum herkömmlichen Advent paßte dieses Programm nicht.
Aber es paßte.
 
Mit seiner « Musique pour les soupers du Roi Ubu » (Uraufführung 1968 in Berlin) griff Bernd Alois Zimmermannn (1918-1970) zurück auf eine Schauspielfarce von Alfred Jarry (1873-1907) über seinen Physiklehrer am Lyzeum. Dumm, dick und gefräßig, erscheint dieser 1896 als König Ubu auf der Bühne, bescheißt sein Volk, mordet seine Gegner. Zimmermann schien das Sujet geeignet, seine kritische Haltung gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen der 1860er Jahre musikalisch dazustellen. So entstand diese satirische, schwarze Tafelmusik für König Ubu aus verschiedensten Musikzitaten, vom mittelalterlichen Choral übers Martinshorn bis hin zu Wagners Walküre. Das kurzweilige musikalische Potpourri wurde zusätzlich aufgelockert durch Thomas Braus, der als Conférencier in Frack und Zylinder, als Obdachloser mit seiner Habe in der Plastiktüte, auf Fahrrad und Dreirad zwischen dem Publikum herumfuhr und später als König mit Pappkrone und Königsmantel die Chortribüne beherrschte. Er erläutert die Farce, gab dadaistisch seinen Senf zu allem, schimpfte grüne Rotze, schrie Merde ins Publikum und schreckte zum Vergnügen des Publikums vor nichts zurück. Das stets gut aufgelegte derb aufspielende Sinfonie-Blasorchester, zeitweise von einer Combo auf der Empore noch verstärkt, lief zu Hochform auf. Man merkt der Musik nicht an, daß der Komponist, ein wichtiger Vertreter Neuer Musik, sich zwei Jahre nach der Uraufführung 1968 erfolgreich suizidiert hat. Also doch nicht nur spaßig? Das minutenlange laute Schlagwerk gegen Schluß mit 2x3 Pauken, Becken, großer Trommel und Klavier ohne jede Melodik stimmte nachdenklich.
 
 
König Ubu (Thomas Braus) im imaginären Gespräch mit seiner Frau

Dann wurde Astor Piazolla (1921-1992) zum 100. Geburtstag mit der Suite aus seiner „Tango Operita“ „Maria de Buenos Aires“ geehrt. Wunderbare Geburtstagsklänge bot die zauberhafte 21-jährige Lucienne Renaudin Vary aus Frankreich. Mit faszinierendem, seidig-elegantem Trompetensound, Groove, Herzschmerz und Gefühl spürte sich jedem Schmachtfetzen nach. Virtuos und seelenvoll, vor allem in Duos mit Cello, Harfe oder Xylophon, musizierte sie lebendig und biegsam mit dem großen Sinfonieorchester. Temperamentvoll, locker und ansatzrein, immer wieder mit der linken Hand sich selbst dirigierend und barfuß sich im Rhythmus auf der Bühne wiegend, fetzte sie die mitreißenden Melodien herunter bis hin zu einer komplexeren Fuge. Quasi als Zugabe gab es noch vier Minuten „Chin-Chin“ von Piazolla und anschließend langen, großen Applaus mit lautstarken Bravi und Bravissimi, wofür sich die 1999 geborene Solistin mit einem kurzen, stilleren Stück für Trompete und Orchester von Nadja Boulanger bedankte. Sofort nachvollziehbar, daß sie 2021 für ihr Album „Piazolla Storys“ mit einen OPUS Klassik Preis ausgezeichnet worden ist. Patrick Hahn hatte sie auf einer gemeinsamen Japantournee vor zwei Jahren kennengelernt.
 

Lucienne Renaudin Vary, Parick Hahn - Foto © Johannes Vesper

Nach der Pause gab es dann Commedia dell` Arte, italienisches Volkstheater aus Neapel, bei dem es um den Frauenhelden Pulcinella, um Liebe, Weibertücke, Herzschmerz, gut gemeinte Ratschläge in Herzenssachen usw. geht. Nach dem orchestralen Chaos des „Sacre“ war Igor Strawinsky (1882-1971) vielleicht im Gefolge des 1. Weltkriegs an riesigen Orchesterbesetzungen nicht mehr interessiert, sondern wühlte für seinen Neoklassizismus in alter Musik, wurde bei Giovanni Battista Pergolesi und dessen Kollegen fündig, Die barocke Musik aus dem frühen 18. Jahrhunderts schien ihm für eine Bearbeitung geeignet, so transportierte er quasi als sein eigener Harlekin diese Musik in seine Zeit. Iris Marie Sojer (Mezzosopran) Adam Temple-Smith (Tenor) und Yisae Choi (Baßbariton) sangen ihre Arien und Ensembles zur Begleitung eines etwas größeren Kammerorchesters bzw. zu makellos aufspielendem Sreichquartettsolisten. Bei vertrackten Rhythmen, heiklen Einsätzen aller Bläser, bei höchst anspruchsvollem, meist kammermusikalischem Zusammenspiel (z.B. großes Duo Fagott und Querflöte, glänzende Posaune, Kontrabaßarie und anderes mehr), war für Orchester und Publikum 42 Minuten lang Konzentration angesagt, die sich unter dem souveränen Dirigat von Patrick Hahn auch problemlos und anhaltend einstellte. Für den starken Applaus bedankten sich Dirigent und Orchester mit einer herrlichen Streicherpolka von Dimitrij Schostakowitsch. So war Publikum mit dem überraschenden Programm, welches eher zum 11.11. gepaßt hätte als zum tristen 12.12., offensichtlich sehr zufrieden, bot es doch eine intelligente, witzige Alternative zu adventlichem Glühwein, Weihnachtsmarkt und Konsumrausch in vollen, Corona-verseuchten Innenstädten am Wochenende.
 

Lucienne Renaudin Vary, Parick Hahn - Foto © Johannes Vesper

Das Bühnenbild der Uraufführung dieses Balletts (1920 Balletts Russes in Paris) stammte von Pablo Picasso und hätte bei Großprojektion ein weiteres Glanzlicht dieses Sinfoniekonzerts sein können.
 
Das Konzert wird heute Abend um 20.00 Uhr wiederholt. Konzert-Einführung bereits um 19.00 Uhr.
 
Redaktion: Frank Becker