Heiligabend in der Kneipe

von Detlef Färber

Detlef Färber - Foto © Silvio Kison
Heiligabend in der Kneipe
 
Auch für den Gastwirt ist der Ruhetag nicht einfach vom Himmel gefallen. Einer mußte irgendwann erst mal auf die Idee kommen. Das war ausgerechnet im Jahr Null- und zwar in einem Städtchen namens Bethlehem. Dort suchte ein junges Paar ein Pensionszimmer. Der junge Mann, den die Welt mittlerweile als heiligen Josef kennt, klopfte im einzigen Hotel an. „Wir sind voll“, sagte der Wirt - und meinte damit gar nicht mal so sehr sein Gasthaus. Denn aus dem Vollrausch dieses leitenden Gastronomen der Bethlehemer Herberge Zur Krippe hatte sich wie von selbst der erste Ruhetag der Welt ergeben. Doch was schön bequem für den Wirt war, das zwang den besagten Josef und seine auf unerklärliche Weise schwangere Verlobte Maria, die Heilige Nacht ausnahmsweise in einem Haus zu verbringen, das kaum mehr als ein Stall war. Und seither klemmen jedes Jahr zu Weihnachten die Kneipentüren. Doch seither findet sich auch immer wieder eine Ausnahme.
     Dieses Jahr ist die Quelle die Ausnahme: Auch sie war früher mal ein Stall, und ihre Stammgäste behaupten, daß sich nicht viel daran geändert hat. Zugegeben: Die Quelle ist nicht der ganz heiße Tipp in der Nobelgastronomie dieser Stadt. Doch als ich in der Heiligen Nacht - so kurz nach zehn - ganz zufällig in die Quelle reinkomme, sieht die Kneipe seltsam verwandelt aus. Schwer zu sagen, ob das nur an der angeputzten Tanne liegt, die auf einmal auf der Theke steht, oder an diesen grellweißen Tischdecken oder an den Kerzen, die da überall zwischen den Gläsern rumflackern? Ich stehe also ziemlich irritiert am Tresen und schnippe nach einem Bier. Kai, der Kneiper - heute mit Schlips und Kragen - spielt wieder endlos am Zapfhahn. Inzwischen legt mir mein Nachbar zur Linken, ein frisch geschiedener Skat-Großmeister (Scheidungsgrund: Grand Hand), den Arm auf die Schultern und lallt ausdauernd auf mich ein. Ich höre nur immer das Wort Frauen und etwas, das wie ,vertrauen' oder gar ,verhauen' klingt und halb Frage, halb Klage ist. Weil ich diesen Mitmenschen aber zu schwer verstehe, versuche ich das Gespräch vorsichtig auf seinen Nachbarn zu verlagern. Es stellt sich schnell raus, daß beide zusammengehören, denn auch der Typ rechts von mir ist Skat-Champion, wenn auch schon länger geschieden als der links. Er, der rechts, löffelt ein Ragout fin, obwohl der Wirt der Quelle sonst jeweils nur die drei klassischen Bockwurstspezialitäten im Angebot hat: Bockwurst mit Salat, Bockwurst mit Brot oder Bockwurst mit ganz ohne.
     „Willsu was ab?“ fragt der Skatmeister mit auch nicht mehr federleichter Zunge. Und noch bevor ich antworten kann, steckt mir schon sein Löffel im Hals: Sehr lecker! Aber um seine Mildtätigkeit nicht weiter zu strapazieren, setze ich mich zu Biggi, bei der Kai gerade abgeräumt hat. Biggi sitzt neben dem Tresen allein am Tisch und guckt verbiestert in ihr Glas. Sie ist ein breitschultriges Schwergewicht im mittleren Alter und nach der letzten Schlägerei mit ihrem Jüngsten (Kevin, 21, Möbelträger) an der Schlaghand verletzt. Biggi steht in dem geheimnisvollen Ruf, sich - wenn's die Stimmung hergibt - den Nächstbesten unter den Stammgästen zu greifen und ihm in der nächstbesten Ecke naihrwißtschonwas anzutun.
     Am Tisch gegenüber sitzt Bodo. Auch er ist ein ziemlicher Schrank, aber alles in allem ein feiner Kerl. Nur immer, wenn mal ein Fremder reinkommt und - wie es die Art von Fremden ist - blöd glotzt, dann fragt Bodo ganz unverbindlich, ob der Typ eins auf die Fresse will. So habe auch ich ihn kennengelernt. Aber zum Glück war Manni in der Nähe. „He, das ist mein Kumpel“, intervenierte er. „Ach so, ach so!“ atmete der gutmütige Bodo auf, weil er mich ja nun nicht vermöbeln mußte. Dafür bekam ich gleich volle Kanne und mit schwerer Pranke seine Sympathie auf die Schulter gehauen. Eine ordentliche Lage Schnaps für uns drei folgte auf dem Fuß: auf Bodos Rechnung.
     Mit Biggi muß die Sache eines Abends weniger glimpflich ausgegangen sein, und zwar für Bodo. In seiner schüchternen Art hatte er Biggi zwanzig Euro geboten, worauf sie wo die Liebe halt nicht hinfällt - die (aus ihrer unkorrekten Sicht) allerschlimmsten Völkerstämme aufzählte und laut durchs Lokal schrie, daß sie eher mal mit denen allen als mit Bodo … Dann gab es gleich noch richtig Sachschaden, und seither lastet die nachtragende Biggi dem Ärmsten ihr bisher längstes Gaststättenverbot in der Quelle an. Bodo, der darüber furchtbar unglücklich ist, ordert auch heute schon wieder den dritten Braunen für Biggi, die aber den zweiten davon, der vor ihr auf dem Tisch steht, noch stumm verachtet.
     Inzwischen drückt Kai hinterm Tresen auf der Musikanlage rum: Auf der Suche nach einem Weihnachtslied, das er mit möglichst viel Text und wenig Lala mitsingen kann. Als er Kling Glöckchen klingeling erwischt hat, kommen zwei Punks rein. Beim Anblick des Weihnachtsbaums entgleisen ihnen die Gesichtszüge. Sie selber haben in ihrem trauten Heim mal wieder einen Besenstiel aufgepflockt, Brettstücke drangenagelt und Blechdosen draufgesteckt. Über das Stadium, als sie sich noch mit der häßlichsten übriggebliebenen Kiefer begnügten, sind sie längst hinaus.
     Offenbar sieht die straffe Zeremonie der Punkerweihnacht auch vor, daß alle Punkt Mitternacht auf den Baum kotzen. Um das sicher hinzukriegen, brauchen sie frischen Schnaps. Deshalb sind sie hier. Doch so einfach mit Nachschub geht das jetzt bei Kai auch nicht mehr. Außerdem hat er gerade mit seiner Zigarre zu tun, die ihm - vermutlich wegen des gesetzlichen Rauchverbots - dauernd ausgeht. „Trinkt was mit uns, Jungens“, nervt er die Punks, die nur so schnell wie möglich wieder vom Hof wollen. Da plötzlich kommt das Lied, auf das es der Kneiper vor allem abgesehen hat. Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen, fallt er gleich mit zitternder Stimme ein und hangelt sich ohne einen einzigen Hänger durch alle Strophen. Nach der Schlußzeile Und kommen wieder übers Jahr schnaubt er ein paarmal voller Rührung, weil er das früher bei seiner Oma singen mußte. Und seine Oma, sagt er, habe dann immer gesagt: Jaja, übers Jahr - ob wir da wohl noch mal rüberkommen?
     „Und jetzt sind wir alle drüben“, grölt plötzlich der linke Skatspieler, der Kais Oma offenbar nicht verstehen will, Während Biggi heftig nickt und schließlich den Kampf gegen den spendierten Schnaps aufgibt. Daraufhin hebt auch Bodo auf seines Kneipers Großmutter das Glas. Doch Kai will sich die Rührung in dieser Sache nicht nehmen lassen. Stille Nacht, ruft er - und dreht das Radio laut. „Jawoll: Stilleee Nacht“, kommt es als donnerndes Echo von der unvollständigen Skatrunde, die das für einen Schlachtruf hält.
     Damit sind nun auch für Kai die Messen gesungen. Nach geschlagenen fünf Minuten musikalischen Weihnachtsgebimmels sind die unschlagbaren Schmalznäpfe der Schlagerkonserve dran. Biggi will tanzen und schnappt sich einen Punker, während der andere - in der Hoffnung, doch noch an die Außer-Haus-Getränke zu kommen - mit Bodo, Kai und den Skatmeistern Brüderschaft trinkt.
     Als Biggi den ersten Punk plattgewalzert hat und nach dem zweiten verlangt, schiebt sich Bodo mannhaft dazwischen. Und endlich, bei der Arme-Sünder-Hymne Du hast mich tausendmal belogen, wird sie schwach, so schwach, daß sie den starken Bodo an ihre Mutterbrust drückt, bis er röchelt. Die Skatspieler haben sich inzwischen des guten alten Volkslieds besonnen und schunkeln sich von Er hat den Urlaub nicht gewollt bis zu Die Weiber sind alle Verbrecher durch die bleibenden Werke der Musikgeschichte. Die Punker wollen die Gunst der Stunde nutzen, sich ein paar Flaschen schnappen und das Weite suchen - da klopft es draußen ans Tor. „Ist doch offen“, schreit Kai. „Jaja“, kommt es vom Flur zurück: „Ich muß doch erst die Stiefel abklopfen.“ - „Nein, Scheiße“, stöhnt der Punk, der schon den ersten Tanz mit Biggi abgekriegt hatte und nun zuerst sieht, wer da reinkommt. Es ist der Weihnachtsmann. Er sieht ein bißchen abgekämpft aus, und seine Zunge ist so schwer wie die der Skatspieler. Hier bin ich Mensch, hier darf ich rein, stöhnt der Weihnachtsmann, dann schlägt es eins. „Feierabend!“, schreit Kai.
     „Mach keinen Mist“, sagt der Weihnachtsmann. „Ich hab' einen vollen Sack übrig behalten, darauf geb' ich jetzt einen aus.“ - „Also meinetwegen“, schnauft Kai, „letzte Runde.“ Er füllt die Gläser und schiebt jedem ein letztes Mal eins davon unter die Nase. Da auf einmal geschieht die große Verwandlung - die, die nur in dieser einen Nacht möglich ist. Und ich sehe, wie sich mit magischem Glanz in allen sieben Augenpaaren die letzten sieben Schnäpse spiegeln.
     Und aus den sieben Schnäpsen spricht leise lallend das Christkind zu den Säufern.
 
 
© Detlef Färber