Lämmerhirt um Längen voraus (3)

von Joachim Klinger

Joachim Klinger pinx.
Lämmerhirt um Längen voraus
 
IV
 
Es liegt im Wesen des Menschen, daß er ein Geheimnis teilen muß. Das hätte Herr Lämmerhirt wissen sollen.
Zwar hatte Bruno den Vorsatz gefaßt, das Geheimnis seines Freundes fest in seinem Herzen zu verschließen, aber die Neuigkeit ließ ihm keine Ruhe. Unaufhörlich kreisten seine Gedanken um die Geister-Gabe. Seine Phantasie malte die aufregendsten Bilder. Also schlief er schlecht und wälzte sich in seinem Bett, bis seine Frau sich aufsetzte und fragte: „Was ist los mit dir?”
„Darüber darf ich nicht sprechen”, murmelte Bruno und zog die Bettdecke über seine Schultern. Das war eine Torheit. Keine Frau der Welt wird sich mit einer solchen Antwort zufrieden geben. Es liegt in der weiblichen Natur, dem Mann ein Geheimnis zu entlocken. Dies läßt sich umso leichter erreichen, wenn der Mann mit ihr das Bett teilt.
Zwar schwor Brunos Frau, kein „Sterbenswörtchen” zu verraten. Aber als ihre beste Freundin zu Besuch kam …
Die weitere Entwicklung ist zwangsläufig. Hier fällt eine unbedachte Bemerkung, dort wird die Neuigkeit weitergetragen und dabei aufpoliert.
Unter der ständig wachsenden Zahl der „Geheimnisträger” war auch ein Journalist. Er witterte eine „Story” und erkundete geschickt die Anschrift von Herrn Lämmerhirt.
Schon klingelte er an seiner Wohnungstür und lächelte Herrn Lämmerhirt, der arglos öffnete, mit den Worten an: „ Lämmerhirt – um Längen voraus! Was halten Sie von dieser Schlagzeile?”
Ehe sich Herr Lämmerhirt von seiner Verblüffung erholten konnte, hatte er bereits am Tisch Platz genommen und knabberte von dem Gebäck, das dort in einer blauen Keramikschale bereitstand.
„Ich verstehe nicht”, stammelte Herr Lämmerhirt. Der Journalist kannte sein Geschäft. Er war pfiffig und in der Befragung von Zeugen geschult. Er begann mit einem Bluff: „Sie können die Dachrinne eines mehrstöckigen Hauses ohne Inanspruchnahme einer Leiter reinigen. Man hat Sie beobachtet!”
Herr Lämmerhirt wußte, daß das nicht stimmte. Gleichzeitig spürte er aber auch, daß dieser Mensch an sein Geheimnis herangekommen war. „Die Leute übertreiben”, sagte er achselzuckend und wie beiläufig. „So ist es”, bestätigte der Journalist, „und die Medien übertreiben auch. Die Nachrichten und Berichte leben von Übertreibungen. Die Leute lieben das, sie wollen es so. Aber bescheiden wir uns mit Fakten! Wie haben Sie es geschafft, Ihren Körper bis zur imponierenden Länge zu dehnen, Herr Lämmerhirt?”
Dieser atmete auf. Er ahnte, wie die Geschichte „laufen” konnte. Deshalb sagte er kurz: „Training! Turnen, Schwimmen, Rudern usw.”
„Und Nahrungsergänzungsmittel” mutmaßte der Journalist.
„Nein”, gab Herr Lämmerhirt zurück, „aber Atem-Übungen jede Menge!” Gut, daß ihm dieser Gedanke gekommen war!
„Atem-Übungen”, wiederholte der Journalist, „damit soll der Körper auf Dauer wahre Wunder vollbringen können.”
„Das will ich meinen”, bekräftigte Herr Lämmerhirt.
„Ich will Ihnen keine Leistungsnachweise abverlangen”, fuhr der Journalist fort, „aber fragen muß ich doch, wie viele Meter Sie bei der Verlängerung Ihres Körpers schaffen.”
„Nun, das kommt darauf an”, erwiderte Herr Lämmerhirt, „es hängt von der Tageskonstitution ab. Aber ein paar Meter sind es schon.”
„Bis zu 20 Meter?” wollte der Journalist wissen.
„Eher weniger”, wich Herr Lämmerhirt aus.
„Und was haben Sie vor?”
Diese Frage mußte ja kommen! Herr Lämmerhirt entschloß sich, Zukunftspläne privater Art auszumalen. Reisen wollte er nach seiner Verrentung, Küstenlandschaften besuchen, schwimmen und tauchen, verborgene Felsengrotten ausfindig machen usw. usw. Er sponn diese Träume so aus, daß der Ermüdungseffekt bei seinem Gesprächspartner nicht ausbleiben konnte.
„Sehr gut”, sagte der Journalist, klappte seinen Schreibblock zu, steckte den Kugelschreiber ein und erhob sich, „sehr gut, Herr Lämmerhirt! Meine besten Wünsche begleiten Ihren Lebensweg.”
Dann schob er sich noch einen Keks in den Mund und verließ Herrn Lämmerhirt, um sich im Büro an die Arbeit zu machen.


Fortsetzung morgen.

© Joachim Klinger 2021