Lämmerhirt um Längen voraus (8)

von Joachim Klinger

Joachim Klinger pinx.
Lämmerhirt um Längen voraus
 
XI
 
Natürlich brachte Prälat Saletta Herrn Lämmerhirt in seinem kleinen Auto zu Roms prächtigem Hauptbahnhof. Es war noch genügend Zeit, und sie gingen auf dem Bahnsteig auf und ab.
„Warum diese geheime Aktion?” frage Herr Lämmerhirt plötzlich, „jedes Baudenkmal muß gelegentlich überprüft und restauriert werden.”
„St. Peter in Rom hat eine besondere Stellung”, erwiderte Prälat Saletta sehr ernst, „das Zentrum der Christenheit ist immer im öffentlichen Blick. Jeder Gerüstbau wird vermerkt. Die Aufmerksamkeit ist groß und kann rasch von den Medien weiter angefacht werden. Die Meldung: Blitz schlägt in St. Peter ein! kann schnell als Zeichen des zürnenden Himmels gedeutet werden. Ist das eine göttliche Zurechtweisung? Man kann leicht die Leute aufregen. Nein, nein, besser so!”
„Und keiner hat etwas bemerkt”, sagte Herr Lämmerhirt zufrieden.
„Nun ja”, flüsterte Prälat Saletta, „einer schon, aber das macht nichts.”
Herr Lämmerhirt war verblüfft. Aber ehe er noch fragen konnte, setzte Prälat Saletta mit leiser Stimme hinzu: „Der alte Guiseppe hat Sie gesehen. Er arbeitet seit Jahrzehnten in den vatikanischen Gärten. Er hat erzählt, er habe einen bärtigen Riesen, wohl einen Apostel, beobachtet, wie er dreimal die Kuppel von St. Peter geküßt habe. Eine hübsche Geschichte, nicht wahr?”
Herr Lämmerhirt machte ein bedenkliches Gesicht.
„Keine Sorge!” beruhigte ihn der Prälat, „Guiseppe ist für merkwürdige Beobachtungen bekannt. Vor einiger Zeit holte er zwei Arbeitskollegen herbei, weil der Erzengel Michael über einem Brunnen schwebte. Es handelte sich um ein Kranichpaar. Da gab es viel Gelächter.”
Der Zug fuhr ein. Ein herzlicher Händedruck, und Herr Lämmerhirt stieg rasch in den Eisenbahnwagen.
In seinem Abteil machte er es sich bequem und schloß die Augen. Er war schläfrig. Eigentlich war das Geburtstagsgeschenk des schüchternen Geistes nicht so übel, dachte er. Nein, nicht übel!
 
XII
 
Etwa vierzehn Tage später erhielt der Jugendfreund Bruno eine Postkarte aus Florenz von Herrn Lämmerhirt:
„Lieber Bruno,
es ist schön, in Florenz zu sein! Die Stadt versammelt so viele Kunstwerke, daß man es kaum fassen kann. Meine dürftige Sprache ist nicht in der Lage, nur einen Bruchteil anschaulich zu machen. Diese Plätze und Palazzi, diese Statuen und Gemälde!
Ich habe bereits einige kleinere Ausflüge in die Umgebung von Florenz gemacht: eine bezaubernde Landschaft diese Toskana! Für mich entfalten die Türme von San Gimignano eine hohen (!) Reiz … Hier möchte ich länger bleiben – länger nicht nur bezogen auf die Dauer des Aufenthalts – Du verstehst?!”
 
 
- Finis -

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