„Die Kunst des Erzählens“

Werke von Mirjam Tally, Dimitri Schostakowitsch und Antonin Dvorak

von Johannes Vesper

v.l.: Cyrill Sandoz (Trompete) - Anna Tsybuleva (Klavier) - Risto Joost (Dririgat) - Foto © Johannes Vesper

„Die Kunst des Erzählens“

5. Abonnementskonzert des Sinfonieorchesters Wuppertal
in der 159. Saison
 
Von Johannes Vesper
 
Mirjam Tally (*1976) „Density“
Dimitri Schostakowitsch (1906-1975): Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester Nr. 1 c-Moll op. 35 und Klavierkonzert Nr. 2 F-Dur op. 102
Antonin Dvorak (1841-1904): Das goldene Spinnrad op. 109
 
Anna Tsybuleva (Klavier) - Risto Joost (Dirigat)
 
Mit 13 Minuten Verspätung beginnt das Konzert, da einige Covid-Testergebnisse noch nicht vorlagen. Endlich kommt das Orchester aber doch noch auf die Bühne. Mit eindrucksvollem Bartok-Pizzicato, bei dem die aufs Griffbrett schlagenden Saiten raschelnd ihre Schwingungsamplitude verlieren, erobern poetisch farbenreiche Klangkaskaden den großen Saal. Bei „Density“ ist alles in Bewegung, schwillt an und ab. Mit bedrohlichen Paukenglissandi und langsamem Glissando aller Streicher fließt die Musik weiter und weiter. Die große Trommel, zunächst im pp dann mit eindrucksvollem Crescendo, strukturiert ein wenig beklemmende, langsam ineinanderfließende, quasi überblendete Klangreihungen ohne rhythmische oder melodiöse Elemente. Ungewöhnlich klingt das tiefe Brummen der großen Trommel, wenn ihre Membran mit dem Gummischlegel gestrichen wird. Kurze Holzbläsermotive lassen an Sturm-, Strand- oder Moorvögel denken. Geboren in Estland, lebt Mirjam Tally (*1976) seit 2006 auf der schwedischen Insel Gotland, wo jetzt angesichts russischer Kriegsschiffe schwedische Panzer patrouillieren. Das hier aufgeführte Werk „Density“ komponierte sie in der Saison 2009/2010 für das Schwedische Radio Symphony Orchestra. Naheliegend, daß ihre poetische Musik auch als Filmmusik genutzt wurde. Sie studierte an der Estnischen Musikakademie (Komposition bei Lepo Sumera). Ihre Diskographie umfaßt bisher vier CDs. Inzwischen wurden ihre Werke in mehr als 20 Ländern, bisher laut Webseite noch nicht in Deutschland aufgeführt. Heute also zum ersten Mal und zwar unter der Leitung des estnischen Dirigenten Risto Joost, der hier 2018 schon einmal mit dem Chor der Konzertgesellschaft und dem Sinfonieorchester bei Mozarts „Große Credomesse“ zu erleben war. Das beeindruckte Publikum spendete reichen Applaus erst nach längerer Stille.
 
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975) hatte zweifellos Sinn für Humor. »Wenn das Publikum bei der Aufführung meiner Werke lächelt oder direkt lacht, bereitet mir das große Befriedigung«, so der Komponist. War seine 1. Sinfonie noch ein Riesenerfolg (Uraufführung 1925), geriet er bald mit der Oper „Lady Macbeth von Minsk“ wie auch mit seinem 1. Klavierkonzert op. 35 von 1933, welches heute hier auf dem Programm stand, in die gefürchteten, geheimdienstlichen Mühlen Stalins. „Chaos statt Musik“ befand die Prawda, seine „quakende, grunzende und knurrende Musik“ könne von den proletarisch-sozialistischen Massen nicht verstanden werden, hieß es. „Wem gehört die Kunst“, hatte sich auch Lenin schon gefragt Heute wurde sein Konzert, welches hier zum 1. Mal zu hören war, vom Publikum verstanden und genossen. Munter und flott begann der erste Satz mit einem Zitat aus Beethovens berühmter Klaviersonate „Appassionata“ und die helle, klare, bewegliche Trompete des Wuppertaler Solotrompeters Cyrill Sandoz kam bald mit Fanfaren dazu. Ein Potpourri unterschiedlichster Musikfetzen (Mahler, Gershwin u.a.) wurde ironisch, parodistisch gemischt. Wunderbar spielten die Bratschen ihr großes Solo. Elegisch, vielleicht russisch melancholisch entwickelte sich der langsame Walzer des 2. und des nicht recht abtrennbaren 3. Satzes, deren ernsthafter Charakter das Zentrum dieses an sich leichtfüßig daherkommenden Konzertes bildet. Temperamentvoll, exakt, frisch und spielfreudig, con brio ging die russische Pianisten Anna Tsybuleva (* 1990) – sie studierte am Staatl. Konservatorium Moskau und an der Hochschule für Musik in Basel- den letzten Satz an. Brillant, rhythmisch anspruchsvoll bei Takt- und Tempowechseln und in exaktem Zusammenspiel mit der blitzsauberen Trompete entwickelte sich bei überschäumenden Trompeten-Stakkati gegen Klavier-Glissandi reines Virtuosenvergnügen. Das Publikum war begeistert.
 

Anna Tsybuleva (Klavier) - Risto Joost (Dririgat) - Foto © Johannes Vesper

Nach der Pause dann wurde das 2. Klavierkonzert (von 1957) von Dimitri Schostakowitsch geboten. In Russland war Schostakowitsch in den 30er Jahren mit seiner Filmmusik „Das Lied vom Gegenplan“ bei der Arbeiterschaft sehr populär. Und als Klavierspieler im Kino wußte er, wie populäre Musik in die Zehenspitzen und ans Herz geht. So wurde er einerseits als erster sowjetischer Komponist und Protagonist sowjetischer Musik gefördert, andererseits wegen seiner Modernität, seiner verkrampften, „epileptischen“, nervösen, vom Jazz beeinflußten Musik als Volksfeind angegriffen. Im Sowjetsystem larvierte Schostakowitsch herum, ist nie der kommunistischen Partei beigetreten. Das 2. Klavierkonzert hatte er für seinen Sohn komponiert, der es auch uraufgeführt hat. Geschrieben in der Tradition von Schülerkonzerten, atmet die Musik melodiöse Jugendfrische, aber auch ein wenig Banalität. Er selbst hatte, obwohl als Pianist alles andere als erfolglos, wegen seiner dicken Finger geklagt: „Meine Hände sind eines Pianisten nicht würdig“. Seinen Sohn wollte er wohl auch etwas schonen. Das Klavier spielt lange, motorisch bewegte, musikantisch- kontrapunktische Soli, deren thematisches Material begrenzt erscheint. Still und besinnlich erklingt der langsame 2. Satz mit hohem liedhaftem Klavierthema zum Horn solo oder sordinierten Streichern. Im schwungvollen Allegro des Finales geht das Konzert nach 20 Minuten zu Ende. Das Publikum war von der Pianistin, ihrer Virtuosität, ihrem schwungvollen Charme sehr angetan, und erhielt eine Zugabe, nachdem sich Anna Tsybuleva bei dem „amazing orchestra“ und dem „amazing Konzertmeister“ (Nikolai Mintchev) bedankt hatte. Sie spielte ein spätromantisches, herrlich seelenvolles Präludium von Dimitri Schostakowitsch. Wunderbar.
 
Zuletzt gab es Antonin Dvoraks (1841-1904) sinfonisches Gedicht ›Das goldene Spinnrad‹ op. 109, thematisch eine gräßliche Mordballade, analog zu Aschenputtel. Die Königsbraut wird von Stiefschwester und Stiefmutter im Wald zerstückelt, vergraben und die Stiefschwester zur Königin verheiratet. Natürlich fliegt am Ende alles auf. Beide Mörderinnen werden den Wölfen vorgeworfen und Aschenputtel phantastisch, also ohne heutige plastisch-chirurgische Möglichkeiten wiederbelebt. Frühes feministisches Märchen? Jedenfalls hat Dvorak ein symphonisches Gedicht daraus gemacht. Jagdhörner beginnen (im böhmischen Wald), Dvoraksche Violinen entfalten typische Klänge: Programmmusik, der König auf der Jagd. Volksfest, unmotiviert fauchen mehrfach kurz die zweiten Geigen. Englisch Horn, Solovioline und Harfe -die Melodien fließen im großen spätromantischen Orchester und die Leidenschaft bricht aus. Bedrohlich leise Pauken kündigen wohl das Gemetzel an. Wie Füße, Hände abgehackt und Augen ausgeschnitten werden, kann klanglich-musikalisch nicht exakt nachvollzogen werden. Eher mischt sich musikalisches Material aus der 9. Sinfonie und „Moldau“ zu einem unterhaltsamen Orchesterstück, welches die Tiefe und Bedeutung der 9. Sinfonie nicht erreicht. Wunderbares Waldweben der Holzbläser. Selbstverständlich gibt es ein prächtiges Happyend, welches Risto Joost mit klarem, weitausholendem deutlichem Dirigat und zuallerletzt in schwungvoller Pose souverän serviert. Großer Applaus, einzeln für alle beteiligten Instrumentalisten, Blumen und das gutgelaunte Publikum kann den medizinisch überflüssigen Antigentest nach Hause tragen.
 
Wer mehr über Schostakowitsch und seine Leben erfahren möchte, sei auf seine posthum veröffentlichen Memoiren („Zeugenaussage“) und/oder auf den biographischen Roman von Julian Barnes „Lärm der Zeit“ hingewiesen.