Der erste Mensch
Albert Camus mit Joachim Król im Opernhaus Wuppertal
Von Johannes Vesper
„Die Pest“ ist einer sein berühmtesten Romane und heute unter Corona aktueller denn je. „Der erste Mensch“ ist sein letzter Roman. Das noch nicht abgeschlossene, handgeschriebene Manuskript lag auf dem Rücksitz des Autos, in dem er 1964 seinen tödlichen Unfall erlitt. Sein Verleger hatte am Steuer gesessen. Von seiner Kindheit in Algier handelt die autobiografische Erzählung, ein intimes sehr lesenswertes Selbstzeugnis. Albert Camus wird im Roman vom kleinen Jaques gespiegelt. Die Witwe des Autors hat seine schlecht lesbare Handschrift entziffert und eine erste mit der Schreibmaschine geschriebene Kopie gefertigt. Der Roman erschien erstmalig 1994 posthum.
1913 geboren, verbrachte Albert Camus seine Kindheit in ärmlichsten Verhältnissen. Sein Vater war mit 29 Jahren 1914 im großen Krieg auf dem Felde der Ehre gefallen. Er hatte ihn nie kennengelernt und machte sich als 40jähriger auf in die Hitze Algeriens, um das Grab seines Vaters in Algier zu aufzusuchen. Die Mutter hatte ihm als Kind den Granatsplitter, der den Kopf des Vaters zerfetzt hatte, aus einer kleinen Keksdose geholt und gezeigt Auf dem Schiff beim Blick auf das grenzenlose Meer im Liegestuhl an Deck, neben ihm die „vom Fressen stumpfsinnig gewordenen Passagiere“, was ja heute immer noch auf Kreuzfahrten passiert, begann die Erinnerung an seine Kindheit. Er war mit der strengen Oma, die gelegentlich ihre erzieherische Autorität mit Hieben des Ochsenziemers unterstütze und seiner halbtauben, sprachbehinderten, schönen, sanften unzugänglichen Mutter groß geworden. Ihm war klar, daß er sie und sie ihn rasend geliebt hatte, wobei sie ihre Liebe nur mit Blicken vermitteln konnte. Mit seinen Spiel- und Schulkameraden erlebte er die Freuden der Kindheit, „herrschte über das Leben und das Meer, und das Prachtvollste. was die Welt zu geben hat“, eine unbeschwerte Kindheit in Armut, aber mit allem, was man für Geld nicht kaufen kann. Nichts was über den engsten täglichen Bedarf hinaus ging gab es in diesem Haushalt. Aber der Volksschule traf er auf den „würdigen“ Lehrer Monsieur Bernard, der „gediegen, elegant gekleidet, mit etwas schütterem, glatten nach Eau de Cologne riechendem Haar, streng, immer gut gelaunt“ die lebhaften Kinder seiner Klasse überwachte hatte. Sein Unterricht empfand die Schüler ständig interessant, denn er hat seinen Beruf geliebt. Er vermittelte den Kindern den Hunger nach Entdeckung und verurteilte „Diebstahl, Denunziation, Taktlosigkeit und Unanständigkeit“. Er schlichtete Streit unter Mitschülern, und dem kleinen Jaques wurde klar, daß einen Menschen zu besiegen ebenso bitter ist, wie von ihm besiegt zu werden. Endlich konnten mit Hilfe dieses Ausnahmelehrers Mutter und Großmutter davon überzeugt werden, daß der kleine Jaques nicht des Geldverdienens wegen eine Ausbildung bei den Markthändlern antreten sollte. Er bekam ein Stipendium für das Lyceum (Gymnasium) das er besuchen sollte und in dem er begreifen würde, daß er „alles, was ich wollte, erreichen würde und daß nichts von dieser Welt ist, mir jemals unmöglich sein würde“. Tatsächlich erhielt er 1957 mit 44 Jahren den Nobelpreis für Literatur.
Dieses anrührenden Textes hat sich nun der aus Film (Wir können auch anders, Rossini, Zugvögel ... Einmal nach Inari, Anne Frank, Ausgerechnet Sibirien, Das Superweib, Mackie Messer, Berlin Alexanderplatz, Felix Krull u.v.a.), Fernsehen (Lutter, Donna Leon, Tatort, Polizeiruf, Endlich Witwer u.a.) und Theater (z.B. Schauspiel Bochum und Köln) bekannte und geschätzte Schauspieler Joachim Król mit einer Theaterproduktion angenommen und war damit am 16.01.2022 im Wuppertaler Opernhaus zu erleben. Begleitet vom Orchestre du Soleil mit arabisch anmutenden, kammermusikalischen, behutsam an die Lesung adaptierten Jazzklängen, las Joachim Król wesentliche Abschnitte aus Camus Kindheitsroman. Mit lebhafter Gestik und sparsamen Wechseln der Sitzpositionen (Blick nach oben zur strengen Oma, Blick nach unten zum „Tiefflieger, zum Dreikäsehoch“ Jaques), mit differenzierten Stimmlagen und klarer Diktion bescherte Joachim Król dem Publikum einen faszinierendes, literarisches Theater, welches vor allem in der Phantasie der konzentrierten Zuhörenden entsteht und zusätzlich zum Text durch ein sparsames Bühnenbild angeregt wird. Mond, großes Fenster an der Seite, an welchem in Algier oft die Mutter stand, schlanke durchsichtige Palme aus den sparsamen Mitteln reichten voll aus. Hochaktuell beleuchtet der Text unsere Gegenwart, deren drängende Fragen er intensiv durchleuchtet. Prekariat, Spaltung der Gesellschaft, Bildung und ihre gesellschaftliche Funktion, nicht zuletzt Schule und ihre Erfolge, Grundzüge der Pädagogik und noch viel mehr kommt zur Sprache. Dieser bewegende hochaktuelle Theaterabend der Sonderklasse endete mit dem berühmten Brief, den Camus nach Erhalt des Nobelpreises an seinen Grundschullehrer geschrieben hat, um ihm für alles zu danken, was er für ihn gewesen ist und noch immer war. Das maskierte, auch nach Auffrischimpfung überflüssigerweise getestete Publikum (Coronaschutzverordnung!) spendete kräftigem und langanhaltendem Beifall.
Joachim Król & l'Orchestre du Soleil: Der erste Mensch - Die unglaubliche Geschichte einer Kindheit nach Albert Camus (16.01.2022)
Besetzung: Joachim Król (Rezitation); Maria Reiter (Akkordeon); Samir Mansour (Oud); Jerome Goldschmidt (Percussion); Ekkehard Rössle (Baß-Klarinette, Saxophon); Christoph Dangelmaier (Baß, Baß-Ukulele); Lucia Faust (Kostüme & Bühnenbild); Birte Horst (Lichtdesign); Christoph Dangelmaier (Komposition); Martin Mühleis (Textbearbeitung, Produktion, Inszenierung)
Weitere Termine → → → hier. https://www.sagas.de
Ausdrückliche Empfehlung dazu: Albert Camus: Der erste Mensch, © Rowohlt Verlag Hamburg (Juni 2021). ISBN 978-3-644-00453 521 Seiten, Taschenbuch, 12,- €. (Originalausgabe „Le premier homme“ Gallimard Paris 1994).
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