François Villon - Das Große Testament

Neu übertragen und eingeleitet

von Ernst Stankovski

Ernst Stankovski - Foto: Agentur
François Villon
Das Große Testament

Übertragen von Ernst Stankovski

Liebe Leser, heute beginnen wir mit einem Grußwort des Autors unsere Serie der Dichtungen François Villons in der deutschen Übertragung, mit der Ernst Stankovski ein neues Kapitel der Villon-Rezeption aufgeschlagen hat.

Im Jahre 1982 habe ich die Villon-Nachdichtung für den Bühnengebrauch verfaßt. Es gab ein aufwendig gemachtes Buch des Langen-Müller Verlages, das aber längst vergriffen ist. „Das große Testament des Francois Villon“ habe ich im Lauf von zwanzig Jahren über dreihundertmal gespielt; von Kellerbühnen bis zum Burgtheater.
Gelegentlich werde ich nach diesem Buch oder nach Villon-Auftritts-Terminen gefragt. Aber die letzte Aufführung war 2003. Dort, wo ich vor Jahren die längste Serie gespielt hatte, im Ernst Deutsch-Theater in Hamburg. Seither ist der Villon von meiner Soloabends-Liste gestrichen. Aber es gibt einen Live-Mitschnitt von einer Aufführung des Deutschen Theater in Göttingen. Diese CD ist bei Kip Records erschienen.
 
Die Musenblätter haben mir vorgeschlagen, die Balladen aus dem Testament in einer längeren Serie zu veröffentlichen. Dem habe ich gerne zugestimmt. Denn mein Anliegen, einen sowohl in seiner Aussage als auch in seinem Vers-Rhythmus möglichst authentischen Villon dem Publikum und den Kollegen nahe zu bringen, scheint kaum Spuren hinterlassen zu haben. Wenn man Villon hört, dann Paul Zech.
 
Sollte es Sie als Musenblätter-Leser interessieren diese Balladentexte zu lesen, freut es mich. Vielleicht haben Sie dabei auch ein Sprach-Vergnügen.   Ernst Stankovski


Vorwort
 
»Man sagt, daß es noch niemals soviel Verbrechen, Sünden und Laster gegeben habe,
wie man heutzutage in Frankreich findet.« (König Heinrich V. von Eng­land nach der Schlacht
von Azincourt, 1415, im Ge­spräch mit dem gefangenen Herzog Charles d'Or­leans.)
 
Wir sind mitten im Hundertjährigen Krieg
 
Jeanne d' Arc, die Jungfrau von Orleans, die später Karl VII. zur Krö­nung führen wird, ist eben erst drei Jahre alt geworden. Die Engländer halten das ganze Land besetzt, und Herzog Charles wird noch fünf­undzwanzig Jahre in englischer Gefangenschaft verbringen müssen, ehe er nach Frankreich zurückkehren darf.
In ein Land, wo sittliche Verkommenheit des Klerus, öffentliche Amoralität des Königshauses, Zügellosigkeit des Adels, Korruption, Brutalität, Mord, Verbrechen und Armut zur Selbstverständlichkeit geworden sind.
Herzog Charles d'Orleans ist ein viel geehrter Kriegsheld und Dichter. Stolz nennt man ihn »Die Lerche Frankreichs«, den feinsinnigen älteren Herrn, der sich auf seinem Schloß Chambord bei Blois vornehmlich der Kunst widmet, umgeben von Sängern, Komponisten und Dichtern.
 
1458 bewirbt sich ein junger Mann aus Paris darum, in diesen Kreis aufgenommen zu werden. Er ist Doktor der Künste, hat gute Umgangsformen, verfügt über eine vielseitige Bildung und ist offenbar mit Witz und einer scharfen Zunge gesegnet.
François Villon, so heißt er, ist willkommen und wird sogar mit einer monatlichen Rente ausgestattet. Seine Gedichte finden sich später in den Folianten des Herzogs, der Poet selbst aber verschwindet schnell wieder vom fürstlichen Hofe. Warum, wissen wir nicht. In einer Ballade scheint er den Herzog um Hilfe angefleht zu haben - der Refrain: Ich, Villon, der ich von jedem aufgenommen und von jedem zurückgewiesen werde!

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Kurz darauf sitzt dieser Villon im Gefängnis von Orleans. Sein Ruf als Mörder, Dieb und Mitglied einer Verbrecherorganisation »La Coquille« hat ihn eingeholt. Wir wissen nicht, warum er eingekerkert war, jeden­falls scheint der Galgen auf ihn gewartet zu haben. So kann man es einer Dankesballade an den Herzog entnehmen. Denn dem Herzog Charles d'Orleans ist es vorbehalten, durch seinen Einzug in die Stadt und die damit verbundene Generalamnestie, diesem Vagabunden das Leben und Frankreich einen seiner größten Dichter zu erhalten.
Ein Jahr später wird François Villon „Das Große Testament“ schreiben, eine Dichtung, die wie keine andere den Alltag jener Jahrzehnte veran­schaulicht.
Villon erzählt von den Menschen, denen er begegnet ist. Von Klerikern, die zugleich Zuhälter, Diebe und Mörder sind. Er schildert Büttel und Wucherer, brutale oder einfältige Polizisten, sadistische Folterknechte und versoffene Richter. Er zeigt auf die Reichen seiner Zeit und auf die Ärmsten, berichtet von den Zuständen in den Krankenhäusern, vom Leben in den Klöstern, vom Treiben in den Kneipen und Bordellen. Er hinterläßt blutvolle Portraits von Frauen, pointierte Karikaturen von Mächtigen, malt mit kräftigen Farben Bilder des Lasters und in innigen Strophen die alles umschließende Frömmigkeit des mittelalterlichen Menschen.
Ein gieriges, wollüstiges Lebensgefühl, das als polare Ergänzung stets die Vergänglichkeit vor Augen hat, wird uns wie ein rasender Totentanz vorgeführt.
Genauso mögen die Zeitgenossen Villons die aus England importierte Mode der Totentänze erlebt haben. Auf den Friedhöfen wurden sie getanzt, in den Grabkapellen an die Wände gemalt. Der Tod, als ver­trockneter Leichnam dargestellt, war darin eine lustige Figur, und die Vorstellung, daß König und Kardinal das gleiche Ende wie Bauer und Verbrecher erfahren, erzeugte eine wilde Freude, eine Schadenfreude, wie man sie wohl auch bei dem anderen Modetanz, dem »Blindentanz«, erlebte. Da wurden vier hungrige Blinde mit einem Knüppel in der Hand auf ein Ferkel losgelassen. Es sollte demjenigen gehören, dem es gelänge, das Tier zu erschlagen. Dann hieben die hilflosen Blinden drauf los und trafen mit ihren Knüppeln häufiger den Menschen als das Tier.
Als ebenso blind und ungerecht muß François Villon sein Schicksal empfunden haben. Es traf ihn immer wieder wie ein Knüppel.

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1431, im Todesjahr der Jungfrau von Orleans kam er zur Welt, geboren »aus niedriger Ahnen Kette«. Der Vater starb bald und Villon, der eigentlich Montcorbier hieß, lebte mit seiner Mutter, die er sehr geliebt haben muß.
1438 wird er seinem Onkel, dem Kleriker Guillaume de Villon zur Erziehung überantwortet und übersiedelt in das Kloster Saint-Benoit.
1443 inscribiert er an der Pariser Universität.
1449 wird er Baccalaureus und
1452 erhält er die Doktorwürde und die licentia docendi.
Bis dahin war er unbescholten, aber sicher hat er sich an den Studenten­krawallen um den »Pet au Diable«, den Teufelsfurz, beteiligt. Die Ent­führung dieses steinernen Wahrzeichens war Anlaß und Symbol der blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Universität und der Stadt­verwaltung unter dem Prevoten Robert d'Estouteville.
1455 ersticht Villon bei einem Streit auf dem Universitätsgelände den Priester Philippe de Sarmoise und flieht aus Paris.
1456 vom König Karl VII. begnadigt und durch ein Dekret rehabilitiert, kehrt er zurück und begeht kurz darauf mit Colin de Cayeux und Guy Tabarie den folgenschweren Einbruch im Collège de Navarre. Er verfaß t seine »Lais« und flieht erneut aus Paris.
1458 und 1459 verbringt er einige Monate bei Charles d'Orleans in Blois und bei Herzog Jean von Bourbon in Moulins, der »Guten Stadt«.
1460 wird er in Orleans in den Kerker geworfen, vermutlich zum Tode verurteilt und von Charles d'Orleans begnadigt.
1461 wird er erneut eingekerkert, diesesmal in Meung-sur-Loire. Es ist das berüchtigte Gefängnis des Bischofs d' Aussigny, wo er gefoltert wird und wohl auch umgekommen wäre, hätte ihn nicht die General­amnestie des eben gekrönten Ludwig XI. gerettet. Er schreibt, wahr­scheinlich schon körperlich gebrochen, sein „Großes Testament“.
1462 wieder verhaftet, wird er ins Châtelet gebracht, aber auf Betreiben der Theologischen Fakultät bald freigelassen und zum Ersatz der beim Einbruch ins Collège de Navarre erbeuteten Summe verurteilt. Villon verspricht, die Summe im Laufe von drei Jahren ratenweise zu zahlen, aber wenige Tage nach seiner Freisetzung wird er erneut wegen eines Raufhandels festgenommen und zum Tode verurteilt.
1463 wird er begnadigt und für zehn Jahre aus Paris verbannt.
Von nun an verliert sich seine Spur. Es ist anzunehmen, daß er den Winter nicht überlebt hat.
 
Das sind die historischen Fakten, die wir Gerichtsakten und anderen Zeitdokumenten entnehmen können. Villon selbst hat davon nie berich­tet (mit Ausnahme der Haft bei Bischof d' Aussigny und seiner Befreiung durch den König).
Er sah sich nie als Verbrecher, wohl aber als Sünder, wie er oft betont. Er war sich auch seines dichterischen Genies kaum bewußt, er wußte nur, daß er ein »Fahrender Scholar« war und ein »Armer Narr«. Er betrach­tete sich niemals als ein Opfer der sozialen Verhältnisse, sondern stets nur als »Märtyrer der Liebe«. Auf seinem Grabstein sollte stehen, daß hier ein armer Narr läge, der nichts besessen hatte, aber das Wenige immer mit anderen teilte, und daß die Liebe ihn getötet habe ... „Qu' amous occsist de son raillon“ ...

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Sein Grab kennen wir nicht, es gibt kein Bild von ihm, kein handge­schriebenes Manuskript, nicht einmal eine Unterschrift auf irgendeinem Dokument.
Und doch wissen wir wie er aussah: »Hager und schwarz, magerer als ein Gespenst« und »wie der Besen eines Rauchfangkehrers«, mit Fingern »knotig wie Stricke«. Und später nach der Haft: »Kahl wie ein Rettich an Kopf, Bart und Brauen«.
Nicht einmal 3000 Zeilen umfaßt sein Werk, aber es erschließt den ganzen Menschen, physisch und geistig. Wir lernen diesen François Villon kennen mit all seinen Widersprüchen, Leidenschaften und Irrtü­mern. Wir können seine Verletzlichkeit nachempfinden und seine Eitel­keiten, seine hohe geistige Moral und seine verstockte Selbstgerechtig­keit, seinen Glauben und seinen Zynismus, seine Wehleidigkeit und seinen Witz.
Vor allem aber sein Genie und - verstünden wir mittelalterliches Franzö­sisch - auch seine Wortgewalt. Denn nur diese, sein Umgang mit der Sprache, sein Esprit waren es, die seinem Werk schon 50 Jahre nach Villons Verschwinden 20 Auflagen bescherte. Zu einer Zeit, da gerade erst die Kunst des Buchdruckes erfunden war.

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Rabelais war Villons erster großer Bewunderer und - Legendenbildner. Mit dem »Pantagruel« schuf er die Figur eines übermütigen Witzboldes, der die Umwelt mit ausgelassenen Streichen neckt und quält. In anderen phantastischen Geschichten läßt er Villon in »seine alten Tage« kommen, ihn in England den König Eduard V. besuchen, ihn in Poitou als Schau­spieler die Leiden Christi darstellen und manches mehr.
Diesen Villon-Legenden sind seitdem viele Versionen hinzugefügt wor­den, vom »König der Vagabunden« bis hin zum »lasterhaften Balladen­sänger« oder »zeitkritischen Proletarier«. Sie alle führen in die Irre.
Der Weg zum Menschen Villon kann nur über die Sprache des Dichters Villon führen, nicht über die Moritat seines Lebens. Doch dieser Weg ist schwer gangbar, denn Villons Sprache ist ohne ein spezielles Lexikon kaum mehr zu entschlüsseln. »Sie gleicht einem mit Patina überzogenen Bild, das nur noch Umrisse erkennen läßt« (Chapiro).
Umso komplizierter ist die Übertragung in eine andere Sprache. Wörtli­che Übersetzung des oft im Original schon nicht mehr Deutbaren ver­wischt eher und macht das Werk noch ferner und unbegreiflicher. Ist Witz an sich schon schwer übersetzbar, um wieviel mehr ein Witz, der sich an Zeitgenossen entfacht, deren Figuren als bekannte Vorlage erst die Pointe zum Zünden bringen. Außerdem: Formulierungen, die in einem Jahrhundert noch Bildkraft haben und Assoziationen hervorru­fen, können im nächsten nur mehr leere Worthülsen sein.
Vieles geht so verloren, ob man es nun übersetzt oder wegläßt. Aber eines ist da und sollte nachvollziehbar sein: Der Vers, der Rhythmus, das Metrum und die kunstvolle Verknüpfung der Reime. Vielleicht sogar der Klang der Sprache.
Wenn Villon in der letzten Ballade seinen Namen dreizehnmal reimt auf carillon, vermillon, couillon, souillon, Roussillion, brosillon, cotillon, haillon, l' equillon, ranguillon, esmerveillon, und morillon, dann bringt die wörtliche Übersetzung nur holprige Sinnentsprechungen. Aber Sinn allein ist nicht Dichtung. Das sprachliche Kunstwerk ist mehr als die Summe seiner gedanklichen Inhalte.

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»Es ist nicht nur eine schwere Aufgabe, sondern auch eine große Verantwortung, das Werk Villons, das zu den lebendigsten und hinrei­ßendsten der Weltliteratur gehört, zu erzählen.
Eine wortgetreue Übersetzung allein genügt heute nicht, um die heite­ren Zweideutigkeiten, die jetzt unverständlichen Anspielungen wieder verständlich zu machen, ohne die der Humor Villons einer welken Blume gleicht.
Einer der Gründe, weshalb die bisherigen deutschen Übersetzungen die Satire Villons nicht im entferntesten wiedergeben, besteht darin, daß der Sinn nicht nur in den Worten, sondern auch in den erwähnten Namen liegt.
Erst seit ein paar Jahrzehnten sind die Zeit und das Leben Villons so weit erforscht, daß ein Kenner und genialer Übersetzter Villons Adä­quates für diese Andeutungen geben könnte, was aber bis jetzt nicht der Fall war«.
(Joseph Chapiro in DER ARME VILLON, 1931)

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Zu Anfang des 16. Jahrhunderts sang man noch Villons Balladen. Franz I., selbst dichtend, zog Villons Werke allen anderen literarischen Erzeugnissen seiner Zeit vor. Er konnte das „Große Testament“ aus­wendig und ließ von seinem Hofdichter Clemens Marot die erste kritische Villon-Ausgabe anfertigen. Schon aber begannen Villons Andeutungen und Anspielungen unverständlich zu werden, die letzten Zeitgenossen starben weg. Und mit Rabelais' Tod erlischt plötzlich das Interesse für den Dichter der Testamente.
Erst das 19. Jahrhundert erinnert sich wieder des fahrenden Scholaren. 1832 schrieb Theophile Gautier einen Essay über Villon. 1856 verfaßte der deutsche Oberrealschullehrer S. Nagel die erste wissenschaftliche Arbeit über ihn. Die Villon-Forschung ging also von Deutschland aus.
1860 entdeckte Longnon die ersten Urkunden. Es folgten Ausgaben von Vitu, Marcel Schwob, Champion und Thuasne. Seitdem gibt es zahllose Arbeiten über ihn, in fast alle Kultursprachen übersetzt, vom Altpolnischen bis zum Russischen, man liest Villon in englischen, dänischen und ungarischen Übersetzungen.
Das Verdienst der ersten wesentlichen deutschen Übertragung gebührt dem österreichischen Dragoneroffizier K. L. Ammer, der in galizischen Garnisonen fast das ganze Testament übertrug. Es fehlen allerdings vier Balladen und weitere siebzehn Strophen. Bert Brecht hat auf Ammer zurückgegriffen, als er seine Dreigroschenoper-Moritaten verfaßte. (Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm).
Im Anhang werden 18 deutsche Ubersetzungen genannt. Soweit dem Verfasser bekannt, ist nur Martin Remane (Rütten & Loening, Berlin) dem Villon'schen Reimschema gefolgt.

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Die vorliegende Übertragung ist von einem Schauspieler verfaßt. Der Schauspieler ist in täglichem, lebendigen Kontakt mit der Sprache. Das gesprochene Wort, nicht dessen dichterische Papierform, ist sein Ele­ment.
Und aus der Sicht des Rezitators ist diese Nachdichtung gestaltet. Eine flüssige, gut lesbare und klare Diktion war das Ziel.
Der Schauspieler ist gewohnt, auf die »Sprechbarkeit« eines Textes und auf die richtige Plazierung von Pointen zu achten. Eben darin liegt im französischen Original die Kraft, die Faszination, der Humor und der Witz. Die Übersetzung sollte also Sprachfluß und Witz vermitteln. Der Schauspieler soll es schließlich verstehen, Schicksale nachzuempfinden und Personen zu gestalten. Er soll imstande sein, in der Dichtung, durch die Sprache, den Menschen lebendig werden zu lassen.
Diese Forderungen als Auflage, habe ich den Versuch einer Nachdichtung des „Großen Testaments“ gewagt.­



Wer den Original-Ton hören möchte kann das mit der oben erwähnten CD zum Programm: www.kip-media.de
Informationen über Werk und Wirken Ernst Stankovskis unter: www.ernst-stankovski.com und www.musenblaetter.de

Lesen Sie morgen das erste Kapitel von
"Das Große Testament" des François Villon.
Redaktion: Frank Becker