Unterwegs mit den Nachkommen der Sonne

Henriette Grindat: Eine Foto-Ausstellung in Winterthur

von Anne-Kathrin Reif

Henriette Grindat, Peupliers et tournesols, route de Velleron, Frankreich, 1951 © Fotostiftung Schweiz

Unterwegs mit den Nachkommen der Sonne
 
Eine Foto-Ausstellung in Winterthur nimmt uns mit auf einen Spaziergang im Luberon
mit Albert Camus, René Char und Henriette Grindat: La Postérité du soleil.
 
Von Anne-Kathrin Reif
 
Die Rubrik „Ausstellungen“ ist gewiß jene, die in diesem seit zehn Jahren geführten Blog am wenigsten gefüllt ist. Nun aber sorgt die Fotostiftung Schweiz in Winterthur für einen schönen Anlaß zu einem Eintrag: Noch bis zum 8. August 2023 ist dort die Foto-Ausstellung Henriette Grindat / Albert Camus / René Char – La Postérité du soleil zu sehen. Camus-Freundinnen und -Freunde kennen vielleicht den Bildband gleichen Titels, der lange nur noch antiquarisch zu haben war, 2009 aber von Gallimard in einer großformatigen Ausgabe neu herausgebracht wurde. Er beinhaltet Fotografien von Henriette Grindat, zu denen Albert Camus kleine poetische Texte verfaßt hat, und sein Dichterfreund René Char das Vorwort schrieb. Aber wie kam es dazu? Ich war dieser Geschichte bisher nicht nachgegangen und freue mich nun, daß die detaillierten Informationen zur Ausstellung darüber Auskunft geben (Der folgende Text basiert in großen Teilen auf der Pressemitteilung der Fotostiftung Schweiz.): 
 

Henriette Grindat, Platane en hiver, Frankreich, 1951 © Fotostiftung Schweiz
 
Demnach suchte Henriette Grindat (geb. 1923 in Lausanne/Schweiz) nach ihrer Ausbildung an der Fotoschule von Gertrude Fehr in Lausanne und Vevey den Austausch mit Künstlern und Literatinnen (und umgekehrt), zwischenzeitlich auch in Paris. Dort begegnet sie 1949 ihrem späteren Ehemann, dem Schweizer Radierer Albert-Edgar Yersin (1905-1984), und lernt den 1907 geborenen französischen Dichter René Char kennen, dessen Texte sie bewundert. Zu diesem Zeitpunkt verband Char und Camus schon eine enge Freundschaft. Bekanntlich besuchte Camus seinen Freund mehrfach in dessen Heimatort L’Isle-sur-la-Sorgue in der Provence, wo jener nach dem Krieg einen Wohnsitz hat, und mietet dort zeitweise ein Landhaus. Schon 1947 bat Camus Char, ihm bei der Suche nach einem Haus in der Nähe behilflich zu sein (Albert Camus in einem Brief vom 30. Juni 1947 an René Char). Die beiden verband nicht nur die gemeinsame Erfahrung in der Résistance, sondern auch die Liebe zur südfranzösischen Landschaft.
 

Henriette Grindat, Les toits des maisons à l‘Isle-sur-Sorgue, Frankreich, 1951 © Fotostiftung Schweiz
 
Char, der in den 1930er-Jahren selbst zum weiteren Kreis der Surrealisten zählte, war beeindruckt von Grindats Fotografien, die sich durch eine sehr subjektive, vom Surrealismus geprägte Bildsprache auszeichnen. Es entsteht der Plan, mit Fotografien und Texten die Stimmung dieser so geliebten Landschaft wiederzugeben. 1950 unternimmt Henriette Grindat in Begleitung von Char Streifzüge in und um L’Isle-sur-la-Sorgue. Sie fotografiert intuitiv, tastet Oberflächen von Vegetation, Topografie und Bauwerken ab, findet stille Szenen, die sich von Zeit und Ort loszulösen scheinen. 1952 verfaßt Camus zu 30 ihrer Aufnahmen kurze poetische Texte, die subtilste Details reflektieren. Das Zusammenspiel ist außergewöhnlich: Die Sprache wächst aus den Bildern und erschließt in ihnen eine neue Dimension. Dennoch läßt sich für dieses Gemeinschaftswerk mit dem Titel La Postérité du soleil (dt.: Die Nachkommen der Sonne) zunächst kein Verlag finden. Erst nach dem Tod von Camus im Jahr 1960 regt sich Interesse an dem unveröffentlichten Werk. 1965 produziert der Genfer Verleger Edwin Engelberts ein luxuriöses großformatiges Portfolio mit Silbergelatine-Abzügen von Grindats Fotografien, Camus‘ Texten und einem Vorwort von Char. Als Buch erscheint La Postérité du soleil erst 1986, im Jahr, in dem Henriette Grindat sich das Leben nimmt, und zwei Jahre vor dem Tod von René Char 1988.

Geboren wurde Henriette Grindat 1923 in Lausanne. Ihr einhundertster Geburtstag am 3. Juli 2023 gibt den Anlaß für diese Ausstellung und würdigt Grindat als eine der „herausragenden Schweizer Fotografinnen des 20. Jahrhunderts, die mit ihrer subjektiven fotografischen Poesie Künstlerinnen und Literaten begeisterte“, wie es im Pressetext der Fotostiftung heißt. In der Ausstellung La Postérité du soleil in der Fotostiftung Winterthur sind die Blätter des Portfolios von 1965 zu sehen. Die dazugehörigen französischen Originaltexte von Albert Camus wurden dafür erstmals umfassend auf deutsch übersetzt. Die Ausstellung wurde kuratiert von Teresa Gruber, Kuratorin Fotostiftung Schweiz.


Ausstellung:
La Postérité du soleil, Fotostiftung Schweiz, Grüzenstrasse 45, CH–8400 Winterthur, 8. Juni bis 6. August 2023.
 
 

Vom flüchtigen Geschmack unverdienten Glücks
 
Ein kleiner Nachschlag zum letzten Beitrag über die Ausstellung La Postérité du soleil bei der Fotostiftung Schweiz in Winterthur: Von poetischer Dichte sind die kleinen Texte, die Albert Camus zu den Aufnahmen der Schweizer Fotografin Henriette Grindat von Streifzügen im Luberon gemacht hat – ein Ton, wie er sich in seinem Werk nicht oft findet. Für die Ausstellung wurden die Texte erstmals umfassend auf deutsch übersetzt. Ein schönes Beispiel hat die Presseabteilung der Fotostiftung mitgeschickt:
 

Henriette Grindat, Le Thor, Frankreich, 1951 © Fotostiftung Schweiz

Le taureau enfonce ses quatre pattes dans le sable de l’arène. L’église du Thor ne bouge plus, force de pierre. Mais qu’elle se mire dans la Sorgue claire, la force s’épure et devient intelligence. Elle encorne le ciel en même temps qu’elle s’enfonce dans un lit de cailloux, vers le ventre de la terre. Sur le pont du Thor, j’ai senti parfois le goût vert et fugitif d’un bonheur immérité. Ciel et terre étaient alors réconciliés.

Der Stier stemmt seine Hufe in den Sand der Arena. Die Kirche von Le Thor bewegt sich nicht mehr, Kraft des Steins. Aber wenn sie sich in der klaren Sorgue spiegelt, verfeinert sich die Kraft und wird Klugheit. Sie nimmt den Himmel auf die Hörner, während sie sich in ein Bett von Kieseln stemmt, gegen den Bauch der Erde. Auf der Brücke von Le Thor habe ich manchmal den grünen und flüchtigen Geschmack unverdienten Glücks empfunden. Himmel und Erde waren dann versöhnt.
 
 
Mit freundlicher Erlaubnis der Autorin übernommen aus „365 Tage Camus“