Wieder mit sich ins Reine kommen!
Oh, je voudrais tant que tu te souviennes
Des jours heureux où nous étions amis… J. Prevert
Ferdinand Wengler ist doch noch nicht weggefahren, ist immer noch dabei, wie er es betont: „mit sich ins Reine kommen!“ Das bedeutet, sein bisheriges, zwar noch recht junges, aber dennoch vom Zeitgeschehen mitgeprägtes Leben in den wesentlichen Erinnerungsbildern zurückzublicken und neu zu überdenken.
Er ist nun schon nahezu eine Woche in Nantes, hat sich jedoch nicht die ganze Zeit hier oben in dieser schrägen Dachkammer eingesperrt, hat einen schon fast festen Tagesablauf entwickelt. Von einem Hier-Eingewöhnen will er jedoch nicht reden; aber nicht versäumen mag er besonders den Gang hinunter zur Stadt, möchte solange er hier weilt, deren maritimes Flair genießen.
Nantes, 21. 07. 1953
Zum Wochenend hatte es hier ein großes, recht buntes Fest gegeben. In der Stadt wimmelte es von vielen neuen Leuten; weniger Touristen, vielmehr heimatbewußte und informierte Anwohner aus der näheren Umgebung. Zum Anlaß muß es vor dreihundert Jahren etwa den Zusammenschluß des Herzogtums mit ganz Frankreich gegeben haben; daher wimmelte es auch in allen Straßen und Gassen an Tricoloren. Ferdinand möchte hier sein tägliches Lauftraining nicht missen; manchmal läuft er sogar zweimal am Tag.
Soeben erst ist er gerade schon in aller Früh von seinem Lauftraining zurück. Wie gewohnt geht´s zuerst hinunter bis an die Mauern vom Chateau zu dem herrlichen Rundlauf rund um den großen Ringwall herum, von dessen Rampe die hohen Wehrtürme um diese Zeit noch lange Schatten werfen.
Auf dem Rückweg ist er noch kurz am Tabakladen vorbei, ein originell kleines Bistro, auch hier im nantaiser Bahnhofsviertel. Er mußte neues Schreibzeug haben; das Papier ist ihm ausgegangen. In dem kleinen Laden kam seinem vom Laufen noch kurzen Atem ein kräftiger Geruch entgegen, ein angenehmer Geruch von Zigarren- und Pfeifenduft; aber er wird nicht dadurch versucht, eine Packung Zigaretten zu kaufen, es wäre die erste in seinem Sportlerleben.
Halt an und Schau zurück! Ferdinand hat sich nun wieder an seinen kleinen Tisch unter der Dachluke gesetzt und ist wieder dabei, sich zurückzuschauen. Bisher ist er an dem Zeitpunkt angelangt, wie er mit Mutter und Oma Berger im Spätherbst 1940 aus der ersten Evakuierung in seinem Heimatort Brotdorf zurückgekehrt ist und vom Vater nach einem Jahr der Trennung freudig empfangen wurde.
(Bei Kriegsausbruch war den nicht zum Militär gezogenen Männern aufgetragen, auf Abruf in der Roten Zone rechts und links der Saar zu verbleiben.)
Wieder vereint hatte sich die junge Familie in den folgenden Monaten bemüht, das gemeinsame Leben mit neuem Mut anzupacken. Zu Silvester wurde sogar hoffnungsvoll, wenn auch in bescheidenem Maße, auf eine bessere Zukunft angestoßen.
Ferdinand erinnert sich noch der Worte, mit denen seine Mutter die Hoffnung auf Frieden zum Ausdruck brachte:
„Möge doch der liebe Gott uns wenigstens damit zufrieden machen, noch in diesem Jahr den unseligen Krieg zu beenden!“
Ferdinand, der sich jetzt hier in Nantes dieser bescheidenen Silvesterfeier Ende 1940 gut erinnert, weiß nun im Rückblick von 13 Jahren danach nur allzugut, daß dieser in der ganzen Welt gewütete Krieg, dessen rasches Ende die Mutter bei Gott so sehr herbeiflehte, noch weitere fünf Jahre andauert und weiterhin Not, Elend und Tod verbreitet hatte.
Für ihn, den damals zehn- bis fünfzehnjährigen Knaben, waren diese Kriegsjahre ebenso wie für alle seine Gleichaltrigen zugleich die entscheidenden Jahre jener bedeutenden Phase körperlich wie seelisch beschleunigter Entwicklung, auf dem sich der Heranwachsende auf dem oft stürmischen, meist schwierigen Weg zum Erwachsenwerden befindet.
Die Schwierigkeiten werden im Falle der betreffenden Generation noch dadurch erhöht, da diese Phase der puberalen Entwicklung zeitgleich zusammenfällt mit jener Epoche der Weltgeschichte, die wie keine andere zuvor, das Wohl und mehr noch das Wehe der ganzen Menschheit erschüttert und somit auch einen nachhaltigen Einfluß auf die angehende Jugend des Josef Ferdinand Wengler ausgeübt hat.
Pornic, die Perle der Côte-de-Jade
Wengler hatte über die Mittagsstunde hinaus durchgearbeitet; doch dann war es hier oben nicht mehr auszuhalten. Da nutzte es nichts mehr, die Scheibe der Dachluke senkrecht hochzustellen; die Tür steht ja, seit er hier ist, ohnehin immer offen. Aber statt des zarten Lüftchens, das in der Früh vom abgedunkelten Speicher ins Zimmer hereinweht, ist jetzt schon die ganze Atmosphäre dieser Ebene hier von der feucht und heißen Julihitze erfüllt.
Wengler schnappt nach Luft, aus der kaum noch ein Rest an Sauerstoff vorhanden zu sein scheint…
Warum tut er sich das an; hätte schon seit einer Woche zu Hause sein können. Und heute, bei der Rekordhitze, könnte er schon seit heute früh in Mettlach im Schwimmbad sein. Daher heißt sein einziger Wunsch für den Rest des Tages: „Nix wie raus aus dieser Hitze!“
Nantes 21. 07. Di, in der Nacht
Et la mer efface sur le sable
Les pas des amants désunis. J. Prevert
Unten frage ich Madame nach dem nächstbesten Strand, worauf sie antwortet: >C´est Pornic, naturellement; es kommt nur Pornic in Frage, dort können sie sich unter hundert den schönsten aussuchen!<
Und wie ich frage, wie hinkommen, zeigt sie nur schräg gegenüber auf die Bushaltestelle.
Du bist also aus der Pension ausgerissen, hast drüben im Tabakbistro einen kurzen Biß zu dir genommen, einen Schluck Bier und noch einen zweiten dazu, und gleich darauf kommt auch schon der Bus. Wenn du dich nicht täuschst, ist es immer noch derselbe alte Ratterbus, mit dem du Ostern vor zwei Jahren zum Moniteurstage nach Piriac gefahren bist, aber heute geht es in die andere Richtung, nahe zum südlichen Ende der Trichtermündung der Loire.
Soeben hier am Hauptbahnhof erst eingesetzt, ist der Bus noch fast leer. Du brauchst dich nicht breit umzuschauen; es ist derselbe wie damals. Also nimmst du wieder ganz vorne neben dem Fahrer Platz.
Pornic, der Ort soll also Pornic heißen, meinte die Chefin von der Pension. Du überlegst: „Pornic, Pornic, hattest du den Namen nicht schon einmal gehört? „
Und schon erinnere ich mich, als ich zuletzt Yannik bei sich zuhause besuchte, da erzählte sie, daß ihr Heimatort Pornichet öfter mit Pornic, dem größeren Badeort in dieser Gegend verwechselt wird, denn beide sind nicht weit voneinander entfernt. Und vom Wort her heißt ja Pornichet auch die Verkleinerung von Pornic. Beide liegen sich an der Côte-de-Jade, auf einer Luftlinie gegenüber; Yannik meinte, Pornic ist vielleicht auch die prächtigste von beiden.
Heute aber geht es dir nicht primär um Begriffe der Topographie; dein einzig gehegter Wunsch: Noch einmal wieder zurück ans geliebte Meer, sich noch einmal in frischer Meeresluft in seine Fluten stürzen!
Hinaus aus der Stadt, hinaus über grüne Felder in Richtung ans blaue Meer!
Nach einer knappen Stunde wird Pornic erreicht. Gleich nach den ersten Blicken über diese prächtige Kleinstadt erkenne ich schon, Yannik hatte Recht; man hat tatsächlich den Eindruck, man sei auch in Pornichet. Nur wenige steigen hier im Ort aus; die meisten fahren mit bis ans Meer, bis zu den Stränden.
Ja, ich sage „Strände“, comme la patronne de la pension, >il y a 100 plages la-bas<, denn, wie der Bus die Küstenstraße entlangfährt, wird es klar. Es handelt sich hier nicht um einen einzigen, direkt durchgehenden Strand. Die Jadeküste besteht hier auf einer Strecke von mehreren Kilometern aus einer ganzen Reihe von Einzelstränden, die jeweils von kurzen herabragenden Felsenklippen recht idyllisch getrennt sind.
Und auf einem der schönsten werde ich vom Bus hier ausgeladen; du bleibst erst einmal am oberen Rand stehen, hältst an und erblickst eine südlich-bretonische Landschaft, wie sie schöner kaum sein kann! Doch das Streben deines Körpers gilt zunächst einmal dem Meer, das dir heute und hier mit einer leichten Brandung silbrig entgegenleuchtet.
Endlich wieder in Gottes freier Natur, so herrlich geschaffener Welt von Meer, Wasser, Wind und Erde. Endlich wieder unter freudig und froh, locker entspannt und genügsam lebenden Menschen, inmitten von badenden, laufenden, springenden, von spielenden, lebhaft streitend und schreienden, so heiter singenden Kindern!
Und dann du selbst; sich endlich in solch ausgelassen lockerer Atmosphäre wieder ins brodelnd kühle Naß einer schäumenden Brandungswelle zu stürzen!
In jeder einzelnen Zelle deines ganzen Körpers erfühlt es sich an, wie nötig es mal wieder war, der Dachbude und dem selbst auferlegten Nachgrübeln zu entfliehen.
Das Gewitter
Noch ist Nachmittag und hier an diesem wunderschönen Strand verschwindet jetzt schon öfter die Sonne, und es wird am Sommerhimmel immer dunkler. Aus dem angenehmen leichten Lüftchen wird ein frischer und dann immer stärker aufwirbelnder Wind, während sich die Wolken mehr zusammenrücken und sich nach unten mit schwarz-blauen Säcken füllen.
In wenigen Augenblicken bricht ganz plötzlich ein Gewitter aus. Die ersten Tropfen prasseln so schnell herab wie es hier keiner erwartet hat. Alles jauchst, schreit und springt auf, und alles Gegenständliche, was leicht ist, wirbelt auf und fliegt davon; Kinder laufen ihren Spielsachen nach, und dann rennt alles und rettet sich unter die Terrasse ins Café.
Durch den Trubel von tausend Beinen hindurch und über das hektische Palaver von tausend übereinanerfallender Stimmen hinweg versuchst du, dich elegant durchzuschlängeln. In einer Ecke ist auf einem kleinen Tisch noch ein Platz frei. Ein Pärchen, das dort schon sitzt, zeigt dir mit einem Armzeichen freundlich an, Platz zu nehmen.
Die beiden, Anfang vierzig etwa, sprechen dich direkt an; wie sie merken, daß du hier fremd bist, fangen sie unvermittelt an, von Pornic, ihrem Heimatort, und seiner Umgebung zu erzählen.
Beide sind von hier, sind hier geboren und in Arbeit; der Mann ist in der Gemeindeverwaltung beschäftigt und fährt gelegentlich noch vor der Schicht zum Fischen.
In ihrem geliebten Pornic wird zwar auch eifrig Fischerei betrieben, doch der Ort ist besonders als Badeort ausgesprochen bekannt, wird in den Ferien viel von Touristen besucht und zu den Wochenenden von Freizeitsuchenden, die aus dem Hinterland, vor allem aus Saint Nazaire und Nantes herüberkommen, hierher zu ihrer beliebten Côte-de-Jade.
Wie ich nachfrage, weshalb diese Region eben Jadeküste, also nach diesem edlen Stein genannt wird, bekomme ich zur Antwort: Es ist nicht der Stein, sondern die Farbe, welche für ihren Namen steht, genauer gesagt, es ist vielmehr la turbité, die Trübung des Wassers.
Wir leben ja hier an dem rechten und linken Flügel der Trichtermündung der Loire, die ja geradezu einen Überfluß an grünlichen, schimmernden Sedimenten mit sich führt, welche hier also die Küste und an den Stränden das Meerwasser mit einer grünlich-maronen Tönung mitfärben.
Wie dann der Mann ansetzt, zu bemerken, daß Pornic auch einen Militärfriedhof besitzt, wodurch der kleine Ort im letzten Krieg ungewollt eine gewisse, keinesfalls rühmliche Berühmtheit erlangte, da sehe ich, wie die Frau ihm die Hand auf seinen Unterarm legt, so als wollte sie ihn davon abhalten, darüber weiterzureden.
Ob sie gemerkt hatte, daß ich Deutscher bin; jedenfalls, es liegt auf einmal eine gewisse Stille über unserm, bis dahin so lebhaft geführten Gespräch. Und wie ich währenddessen meine Gegenüber bewußt fragend anschaue, zögern die beiden zunächst, fahren dann aber beide gemeinsam an zu erzählen, was es mit diesem besonderen Friedhof aus sich hat:
Am 17. Juni 1940,
dem Tag, an dem in Compiègne der Waffenstillstand zwischen Deutschland und Frankreich geschlossen wurde, lag hier vor Ort das britischen Kreuzfahrtschiff Lancastria vor Anker, bereit mehrere Tausend Soldaten und zivile Flüchtlinge aus aller Herren Länder vor dem Einmarsch der Wehrmacht nach England zu bringen.
Das hochüberfüllte Schiff wurde von der deutschen Luftwaffe mit einem schrecklichen Bombardement belegt, bei dem tausende Passagiere verbrannten oder ertranken. Und dazu, noch während das stolze Schiff sank, hatten deutsche Piloten aus ihren Flugzeugen nachträglich aus Maschinengewehren auf die Überlebenden im Wasser geschossen. Von ungefähr 8000 Menschen hatten nur 2477 überlebt…
Ich vermag die Situation nicht in Worte zu fassen, welche sich im Augenblick, hier in diesem, von lustigen Menschen und viel heiterem Lärm überfüllten Feriencafé an dem kleinen Tisch in der hinteren Ecke abgespielt hatte; vermag nicht auszudrücken, welche seelische Empfindung mich, den Deutschen, und mir gegenüber die beiden andern, den französischen Mann und seine charmante Begleitung erfüllt hatte.
Inzwischen ist draußen das Gewitter, so schnell wie hereingebrochen, auch ebenso eilig nach Osten abgezogen. Das Café hat sich rasch wieder geleert, und auch meine Tischnachbarn streben wieder hinunter zum Strand. Auf halbem Weg drehen sich beide noch einmal um und winken dir zu, doch mitzukommen.
Dir aber ist nicht mehr nach der Lust, noch einmal ins Wasser zu steigen; zu ergriffen, zu sehr haben dich die schrecklichen Geschehnisse erfaßt, die hier vor 13 Jahren, sicher ebenfalls bei prächtigem Sommerwetter, von Menschen deines Volkes verursacht und dir soeben von freundlichen Menschen dieses Landes betroffen mitgeteilt wurden.
Zudem wird bald auch der Bus eintreffen; so bleibst du, noch für einen Moment im Türrahmen des Cafés stehen, um dir vom wiederauflebenden Menschengetriebe zwischen Sand und Meer noch einen letzten Blick mit auf den Weg zu nehmen und dabei auch den beiden Winkenden zurückzuwinken.
>Pour ne pas tomber dans l'oubli ! <
Damit es nicht ins Vergessen sinkt!
Von ihnen, meinen Tischnachbarn, hatte ich am Ende unseres Gespräches noch erfahren, wie damals das Schicksal unter den weiterhin drohenden Kriegsgefahren, unter dem lähmenden Schreck und einer tiefen Trauer von all den damals hier lebenden Menschen abverlangen mußte, die Ertrinkenden, so weit möglich, zu retten und die unzähligen Toten zu sammeln, zu bergen und schließlich zu beerdigen. Deren Zahl war gegenüber dieser übermenschlichen Aufgabe so groß, daß es nicht nur des neugeschaffenen Ehrenfriedhofs von Pornic allein bedurfte, sondern auch noch weiteren 15 Friedhöfe in der Umgebung, damit alle Toten ihre letzte Ruhe finden konnten.
Jetzt, da du hier oben so eingerahmt zwischen Tür und Angel dastehst, stellt sich in dir wieder ein wenig Ruhe ein; dein Bus wartet zwar, doch du bleibst, nur für einen Moment noch im Türrahmen des Cafés stehen, um dir vom wiederauflebenden Menschengetriebe zwischen Sand und Meer einen letzten Blick mit auf den Weg zu nehmen.
Der Himmel ist weitgehend wieder blau, wenngleich immer noch ein paar dicke Gewittertropfen hinterherfallen und sichtbar feste auf den Sand aufklatschen. Doch auch das scheint den meisten, Großen wie Kleinen, die sich nach dem Orage wieder weitervergnügen, einen zusätzlichen Spaß zu machen, unter dem leichten Nachtropfen barfuß zwischen Wasser und Sand zu waten.
Da bleiben deine Augen auch an dem Pärchen, den Tischnachbarn vom Café, haften; es beruhigt dich, sie so innig vereint durch den nassen Sand waten zu sehen und wie sie dir dabei noch einmal freundlich zuwinken.
Es ist nahezu das gleiche Bild, wie du es von Lisou und Schamp
auf Cap Coz kennengelernt hattest. Noch vor gut einer Woche
konntest du die beiden; Freund und Freundin, dort just auf
ähnlich glückliche Weise Arm in Arm durch den Sand wandeln sehen.
Wenn ich bedenke,
auch sie hatten diesen unseligen Krieg erleben müssen, und wie lange die beiden durch ein unglückliches Schicksal voneinander getrennt waren, so klingen mir erneut die treffenden Worte des Poeten wieder ein: Und das Meer verwischt auf dem Sande die Schritte der (einst) getrennten Liebenden.
Et la Mer efface sur le sable
Les pas des amants désunis.
© Rudi Engel
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