Breitband Cinemascope und amerikanischer Klangkoloss

Sinfonieorchester Wuppertal - 8. Sinfoniekonzert in der 161. Saison

von Johannes Vesper

v.l.: Nikolai Mintchev, 1. Violine, Patrick Hahn - Foto: Johannes Vesper

 

Breitband Cinemascope 
und amerikanischer Klangkoloss
 
Sinfonieorchester Wuppertal - 
8. Sinfoniekonzert in der 161. Saison
 
Von Johannes Vesper
 
In den letzten Wochen war mehrfach Amerika das Thema. Das 8. Sinfoniekonzert begann mit Filmmusik von John Williams, dem vielleicht erfolgreichsten Filmkomponisten, über den Steven Spielberg gesagt hat: „Ich kann mit Bildern zeigen, wie sich das Fahrrad des Außerirdischen vom Boden erhebt, aber John Williams bringt es zu Fliegen.“
 
Was aber bleibt von der Filmmusik übrig, wenn der Film gar nicht gezeigt wird? Ursprünglich war sie ja nur für den Hintergrund gedacht. Um 1900 improvisierten Pianisten bereits zu Stummfilmen. Camille Saint-Saëns hat als einer der ersten 1908 op. 128 (mit Harmonium) für einen Film geschrieben, Hindemith 1927 Katzenmusik im Wortsinn mit mechanischer Orgel für einen Kater Felix-Trickfilm. Nach der Erfindung des Tonfilms 1929 und der Entwicklung der Filmindustrie wurde diese Musik als Soundtrack zu einem eigenständigen Genre.
 
Mit der bekannten Musik „Adventures on Earth“ aus „E.T.“ von John Williams eröffnete GMD Patrick Hahn das Konzert. Hektisches, lautes Blech, mit stereotypen Repetitionen, rauhe, tiefe Streicherkantilenen, teilweise zusammen mit Posaune, Flötentöne zu immer wieder leise perlenden Arpeggien zweier Harfen: all das spielte das Orchester gekonnt und exakt. Der Außerirdische scheint viel Aufregendes auf Erden zu erleben.
Auch die Filmmusik aus Jurrassic Park gehört zu Hollywoods Ohrwürmern. Nach langsamem, makellosem Hornsolo entwickelten sich prächtige orchestrale Klanggebirge wie sie zu den riesigen Brachiosauriern passen könnten. Ohne Zweifel ist hier die Phantasie gefragt. Ergreifend sind diese orchestralen Spektakel nicht wirklich, beeindruckten aber das jubelnde Publikum auch ohne Breitband Cinemascope. Anschließend erläuterte Patrick Hahn im nahezu ausverkauften Großen Saal, daß die folgende Musik zum „Weißen Hai“ ohne Unterbrechung in das Werk „Amériques“ von Edgar Varese übergehen wird, sein Hauptwerk. Frühere Werke von Varese wurden bei einem Brand in Berlin nahezu alle zerstört.
 
Erst aber mal „Der weiße Hai“. Bei dem einfachen Kopfthema, eine simple aufsteigende, leicht rhythmisierte Sekunde, soll Spielberg nur gelacht haben, tatsächlich aber zeigte sich, daß das aus der Tiefe aufsteigende, von allen Kontrabässen und Celli, von Posaunen und Tuba vorgetragene, bald dank Schlagzeug und weiteren Instrumenten ungeheuerlich intensivierte Motiv einen ersten musikalischen Höhepunkt des Konzerts bot, und bald, getrieben von schlagenden, marschierenden Baßrepetitionen, spürte der Zuhörer den fatalen Ernst und die bedrohliche Lage vor dem Riesenmaul des von seiner eigenen Musik enthemmten Ungeheuers. Unter rhythmischen Verschiebungen, harten Synkopen und einem ungeheueren Orchesterschlag erstirbt das schicksalhafte Motiv der Sekunde nur vorübergehend. Das große sinfonische Kino endete, als sich bei strahlenden Flöten über stehenden Akkorden beider Harfen, schmatzend erzählendem Holzschlagwerk, Glissandi in Baß und Blech das Orchesterstück von Edgar Varese entwickelte. Der italienische Franzose, Schüler von Busoni in Berlin, emigrierte bald nach Beginn des 1. Weltkrieges in die USA und versuchte den Lärm New Yorks inklusive Sirene und aller Katzen auf den Straßen dort als sinfonische Musik in den Konzertsaal zu bringen und zwar mit acht Hörnern, sechs Trompeten, fünf Posaunen, zwei Tuben, insgesamt 14 Schlagwerken und allen anderen. Harfen, hier keine Saloninstrumente, charakterisieren Rhythmus und Klang auch noch mit Einzug von Dämpfern. Tatsächlich entwickelte sich unter dem sorgfältigen Dirigat des GMD eine chaotische Lärmkulisse. Da wurde Musik zum lärmenden Geräusch. Oft bietet ein charakteristisches Flötenthema, begleitet von Harfenterzen, Wiedererkennungswerte und alle rund 100 Musiker arbeiten hart daran, darzustellen, was der Komponist für die Geräuschkulisse einer Großstadt hielt. Das Stück bietet durchaus Assoziationen an Debussy und Strawinsky, ist mit solchem Lärm am Arbeitsplatz aber nicht nur musikalisch problematisch, sondern auch arbeitsmedizinisch. Nach 23 Minuten ist alles vorbei. Der wichtigste musikalische Einfall ist das immer wieder bestimmende Sirenengeheul. Einmal in einem jahrzehntelangen Abonnentenleben sollte dieser „stratosphärische Klangkoloss“ (Henry Miller) zur Kenntnis genommen werden, gilt Varese doch als ein wichtiger amerikanischer Komponist der Moderne.
 
Nach der erholsamen Pause gab es mit der 2. Sinfonie „Herzenstöne“ von Sergei Rachmaninow, der nicht eine Filmmusik selbst komponiert hat. Aber posthum wurde seine Musik für verschiedenste Filme als Soundtrack benutzt so z.B. „Das verflixte 7. Jahr“ mit Marilyn Monroe.
„Liebe, Bitterkeit, Trauer oder Religion“ wolle er mit seiner Musik ausdrücken, wird er im Programm zitiert und das mit differenzierter Klangsprache und einer subtilen Intensität, die den Zuhörer ergreift. Rachmaninow erlebte bei der Uraufführung seiner ersten Sinfonie ein Fiasko, hat die zweite in Dresden komponiert, fand sie selbst „schrecklich langatmig“. Dem Dirigenten ist es aber gelungen nach dem Tohuwabohu vor der Pause doch wieder musikalische Konzentration aufzubauen. Schon mit der langsamen Introduktion leiser Celli, dann sonorer, wunderbar klangvoller Bratschen steigerte sich die Entwicklung mit Verve, Temperament und dunklen Klangfarben zu emotionaler Dichte. Nach dem heiklen Schluß des 1. Satzes brach Sonderapplaus aus. Der schnelle, musikantische 2. Satz forderte das Orchester erheblich, vor allem die sehr flinke Fuge nach dem elegisch-lyrischen Mittelteil. Beim wunderbaren Adagio des 3. Satzes fließt Seelenschmerz üppig schwelgend erneut dahin mit herrlichen Bratschenkantilenen, mit gesanglicher Solovioline (Nikolai Mintchev) und beseeltem Solohorn bis unter den Ausbrüchen des Schlußsatzes das lange Werk nach rund 55 Minuten ein Ende findet. Rachmaninow hielt die Sinfonischen Tänze für sein bestes Werk. Das Publikum war aber von der Sinfonie begeistert und spendete am Ende frenetischen Beifall.
 

Sinfonieorchester Wuppertal, in der Mitte: Nikolai Mintchev - Foto: Johannes Vesper

Historische Stadthalle Wuppertal auf dem Johannisberg in Wuppertal, 14. und 15. April 2024. Sinfonieorchester Wuppertal, Dirigent Patrick Hahn
 
Programm: John Williams (*1932): ›Adventures on Earth‹ aus ›E.T. – Der Außerirdische‹; Main Theme aus ›Jurassic Park‹; Main Theme aus ›Der weiße Hai‹; Edgar Varése (1883-1965) ›Amériques‹; Sergej Rachmaninow (1873-1943) Sinfonie Nr. 2 e-Moll op. 27