3 : 2 für die Ewigkeit

Ein Heldenepos in elf Gesängen - Zweiter Gesang

von Michael Zeller
3 : 2  für die Ewigkeit
Ein  Heldenepos in elf Gesängen
 
Von Michael Zeller
 
Die Wahrheit is auf’n Platz
und der Mythos sitzt im Kopf
Adi Preißler/M.Z.
 
 
Zweiter Gesang
 
Zweitausendzwei, siebzehnter Juni
am Tag des ersten Türken-Spiels
damals, vor Zeiten – wißt Ihr noch?
ein hart erkämpftes Vier zu Eins
das den Weg zum Titel ebnet? –
Siebzehnter Juni Zweitausendzwei
beinahe fünfzig Jahre später
Es stirbt Fritz Walter, in der Pfalz
die sein ganzes Leben sah
mehr als achtzig Jahre lang
Das Spiel des Schicksals mit den Zahlen
(als sei’s dem Fußball abgeguckt)
überfordert alle Köpfe
und schafft sich eine Wirklichkeit
die unserer zähen Ordnung spottet
Siebzehnter Juni allewege
 
Viele Bürger dieses Landes
hätten damals gern gesehen
daß der Tag des „Berner Wunders“
der vierte Juli Vierundfünfzig
zum Ehrentag der Deutschen würde
an dem man sich erinnern solle
Jahr für Jahr, in Dankbarkeit
da deutsche Männer Großes schufen
vor den Augen aller Welt
und wir dabei vergessen durften
was von anderen deutschen Männern
gerade mal zwölf Jahre früher
auf die Welt gekommen war
Vierter Juli Vierundfünfzig
ohne Schuld und ohne Makel
beinahe harmlos, der Triumph
symbolisch eher als real
Und ging doch in die Seele tief
dieser Menschen, Mann wie Frau
nicht vergessen: auch von Kindern
die nicht wussten, was da war
aber umso stärker fühlten
daß sie endlich etwas durften
was bis dahin verboten war
unter einer Kruste Schweigen
 
Doch da gab’s den anderen Tag
der den Strategen des Gedenkens
besser in die Karten paßte
War ja schließlich Blut geflossen
(das gibt seine eigene Würde)
auf der Karl Marx-Allee, Berlin
Siebzehnter Juni Dreiundfünfzig
galt als „Tag der deutschen Einheit“
Der Anspruch sollte offen bleiben
daß die Teile dieses Landes
wieder zueinander fänden
- um ein stärkeres Team zu bilden
bei den Fußball-Weltturnieren?
Oh nein! Die Politik denkt höher
sie hat Hehres nur im Sinn
wohin der Mensch sich strecken soll
und sein besseres Ich erkennen
(Ob die Menschen das so mögen
sei für diesmal nicht die Frage)
 
Und irgendwie hat’s auch geklappt
Einige Jahrzehnte lang
galt der Aufstand in der „Zone“
als nationaler Feiertag
mit lieben Kerzlein in den Fenstern
für die Schwestern dito Brüder
ob wir wollten oder nicht
Das Jahr Neunzehnhundertneunzig
brachte erst die Einigung
der abgetrennten Landesteile
die beide eines Wesens sind
und damit war der Tag kassiert
Keiner konnte ihn mehr brauchen
kam zum Gerümpel der Geschichte
– Kompost oder Deponie?
 
Doch auch der Glanz des „Berner Wunders“
war erloschen mit der Zeit
glimmte weiter in der Tiefe
jener alt gewordenen Kinder
die zur Räson gefunden hatten
und nur noch heimlich davon träumten
wie sie mal Weltmeister geworden
vor – ach: hundert Jahren wohl?
Der Tag im Juni blieb jetzt frei
war nur noch schnöde Wirklichkeit
Das schöne deutsche Einerlei
ließ viele Seelen ungesättigt
 
Welcher Gott ist es gewesen
der des Fußballs, der von Zahlen?
Jedenfalls: Von einer Warte
zu der wir keinen Zugang haben
wir armen Menschlein in der Zeit
Ein Gott nahm sich der Blöße an
und ließ am Siebzehnten im Juni
in der Pfalz Fritz Walter sterben
knapp fünfzig Jahre nach dem Spiel
das mit der deutschen Seele spielte
und wohl noch eine Weile spielt
Auch mit dem Tod des „Großen Fritz“
geschieht etwas Erstaunliches
Der nationale Einheitstag
längst ein Muster ohne Wert
hat sich wieder aufgeladen
als Tag, an dem Fritz Walter starb
der „Berner Held“ von Vierundfünfzig
 
Das weiß ich jetzt mein Leben lang
wann in der Pfalz Fritz Walter starb
Und der Gott der Schlachten weint
 
 
 © Michael Zeller

(Erstveröffentlichung in den Musenblättern)