3 : 2 für die Ewigkeit
Ein Heldenepos in elf Gesängen
Von Michael Zeller
Die Wahrheit is auf’n Platz
und der Mythos sitzt im Kopf
Adi Preißler/M.Z.
Dritter Gesang
„Wenn die deutsche Mannschaft spielt
rollt der Franken in der Schweiz“
stand damals in der WELT geschrieben
und ein anonymer Dichter
aus dem Land des Alpenhorns
rühmt die Nachbarn aus dem Norden
„Liebe Wirtschafts-Wunderkinder
Was uns so an euch gefällt
ist der schwere Achtzylinder
und das teure Geld nicht minder
über alles in der Welt!“
Der Sitzplatz kostet vierzehn Mark
im Sankt Jakob-Stadion Basel
Vierzehn DeMark sind horrend
damals für den gemeinen Fan
Frisch ist die Währung noch und hart
Doch will man sich nicht lumpen lassen
wenn’s gegen diese Ungarn geht
die „Wunderelf“ aus Budapest
Gut. Die Ungarn sind die besten
Gut. Sie sind der Favorit
Umso besser! Wollen mal sehen
Unsere Männer können’s auch
Wir werden sie nach vorne peitschen
dem Grosics ein paar Eier reinschreien
Dafür sind wir hier im Stadion
hauen die Märker auf den Kopf
Auf uns kann Deutschland sich verlassen!
Mannomann, sind ja nur unsere
auf den Rängen überall
staunt der aus Deutschland Angereiste
Ob’s da auch noch andere gibt?
Der Lautsprecher – was krächzt der da?
Kwiatkowski? Der soll spielen?
Mebus? Pfaff? Ich werd nich mehr
Linksaußen Hermann – spinnt der denn?
So viel wie der bring ich noch selbst
Wo bleibt Schäfer, wo ist Ottmar
Warum spielt Max Morlock nicht?
Ist der Herberger besoffen?
oder hat ’nen Sonnenstich?
Gegen diese Ungarn schickt er
solche Gurken auf den Platz?
Der hat’n Loch im Kopp, der Alte
Ich hab’s immer schon gesagt
da muss mal ein Junger ran
Läuft der mit der Reserve auf –
Mannomann, wo bin ich hier?
Dreißigtausend sind ins Stadion
aus deutschen Landen angeströmt
Heiß wie im Rachen eines Raubtiers
so knallt die Junisonne runter
und die Stimmung ist am Sieden
nicht nur wegen dieser Hitze
Die Deutschen pfeifen, schreien, johlen
wüten dreißigtausendfach
und manche schweigen bloß entsetzt
als sie den Stadionsprecher hören
der die Aufstellung verliest
Betrogen, regelrecht betrogen
so fühlen sie sich vor dem Anpfiff
Gottlob. Die Spieler hören nichts
die Kabine schluckt den Lärm
Kwiatkowski debütiert
in der Nationalmannschaft
„Nur Mut, Kwiat! Wird schon schiefgehen“
richtet ihn Fritz Walter auf
seine Pflicht als Kapitän
Noch im Gang trifft er auf Puskas
„Servus, Fritz!“ grüßt der auf Deutsch
Habsburgs Formeln sind lebendig
Mit Verteidiger Posipal
groß geworden im Banat
reden die Ungarn ihre Sprache
und er hat sich ausgemalt
im Spiel von ihnen aufzuschnappen
wie sie ihre Ecken treten
wohin der Freistoß kommen soll
Doch Posipal ist angeschmiert
Wenn sie ihn in der Nähe wissen
sprechen die Magyaren Russisch
Statt Wiener Hofburg herrscht der Kreml
in der Mitte von Europa
und Posipal versteht nur „Bahnhof“
Ob Ungarisch, ob Russisch, Deutsch
die Kriegslist hätte nichts genutzt
an diesem Tag der „Sonnenschlacht“
die im Sankt Jakob-Stadion kocht
Es spielt nur eine Mannschaft heute
Nach der ersten Viertelstunde
führen die Ungarn Drei zu Null
Mit der Hacke mit dem Knie
angetupft, mal kurz, mal steil –
das Bällchen läuft an einem Faden
durch den Innensturm der Ungarn
Puskas, Hidekuti, Koscis
Ihre Fußballkünste funkeln
werden nie vergessen sein
Die deutsche Hintermannschaft taumelt
schafft den Ball kaum mal nach vorn
Nur einer gibt sich nicht geschlagen
Helmut Rahn auf rechts, der „Boss“
Er will sich in die Mannschaft spielen
bisher nur ein Reservist
und so zeigt er seine Dribblings
lupft und kurvt und paßt auf Pfaff –
Eins zu Drei. Na, immerhin
Ist das bloß der Ehrentreffer
oder soll es doch noch klappen
mit dem kühn geträumten Remis?
In der Pause keimt die Hoffnung
„Auf geht’s: Hopp! Wir packen’s noch…“
Gleich nach der Halbzeit kommt das Aus
aus zwanzig Metern – Vier zu Eins
Das Unentschieden ist gegessen
Fritz Walter steckt bewußt zurück
rennt nicht mehr nach jedem Ball
Nur nichts mehr auf die Socken kriegen
Er hat das Türken-Spiel im Kopf
das jetzt als nächste Hürde kommt
nach dieser satten Niederlage
die heute wohl geschehen soll
Die Ungarn kennen kein Pardon
das sechste Tor ist eingeschenkt
und dreißigtausend Deutsche brüllen
johlen, pfeifen, was das Zeug hält
schreien ihre Wut heraus
Viele haben die Nase voll
wie die Mannschaft sich blamiert
sie fliehen aus dem heißen Stadion
wollen nicht mehr mit ansehen
wie böse diese Pleite endet
Mit so viel Hoffnung angereist
vierzehn Emmchen hingeblättert
Jetzt Finger in den Mund gesteckt
und die Seele leer gepfiffen
„Betrug! Das ist Betrug gewesen!“
Der Herberger – wer sonst ist schuld
Viel versäumen sie auch nicht
Die spielen ihren Stiefel runter
ohne Taktik, lockerer Kick
Bloß einer – einer kämpft noch immer
auf Rechtsaußen Helmut Rahn
Dieses Spiel, egal wie’s steht
ist seine Chance im Turnier
und da packt er kräftig zu
unbeeindruckt von der Hitze
Heute sollen alle sehen
dass er in die Mannschaft muß
Dem Trainer wird’s schon nicht entgehen
dass er sein Mann ist – und nur ER
Rahn, die Frohnatur vom Pott
Zimmernachbar von Fritz Walter
bringt ihn oft genug zum Lachen
lenkt ihn ab von Grübeleien
die ihn befallen immer wieder
Tut ihm gut, dem „Großen Fritz“
der robuste junge Mann
mit der hochgekämmten Tolle
Ja, der „Boss“ steckt voller Streiche
Manchmal fängt er sich ’ne Taube
vom Fensterbrett und bringt sie Fritz
In Vaters Taubenschlag in Essen
hat er diese Kunst gelernt
Heute hat er selbst gut Lachen
als er den Basler Platz verläßt
muß sich nicht darüber grämen
daß er ausgepfiffen wird
wie die abgekämpften anderen
Blanker Haß. Ach, leckt mich doch
Die Klatsche gegen diese Ungarn
Drei zu Acht – knapp war das nicht
Ich aber hab mein Spiel gezeigt
und ein Ding selbst rein gemacht
Draußen will ich nie mehr sitzen
ICH, der „BOSS“ von Katernberg
Alle haben sie’s gesehen
sind ja nicht nur Blinde drunter
Im Bus zurück dann ins Quartier
Sepp Herberger ergreift das Wort
und sein Singsang kommt energisch
„Männer, laßt den Kopf nicht hängen!
Keiner wird uns unterkriegen
sollen sie schreiben, was sie wollen
Wir zeigen schon noch, wer wir sind
Habt Ihr noch Luft zu einem Lied?“
Und tatsächlich singen sie
gegen diese Pfiffe an
die noch in ihren Ohren schrillen
Auf der Heimfahrt singen sie
Trübsal blasen strikt verboten
auch beim Bier zum Abendbrot
das eine Glas nach jedem Spiel
Warum soll’s heut verboten sein?
Am Frühstückstisch. Der Tag danach
Keiner soll sich unterstehen
an die Schlappe zu erinnern
Schnee von gestern, weggeschmolzen
Das nächste Spiel steht auf dem Plan
übermorgen: Die Türkei!
„Hasche Mumm?“ In breitem Pfälzisch
spitzt Fritz Walter Morlock an
und der Stürmer, spielfrei gestern
schwärmt gleich von dem „dollen Wirbel“
(mit fränkisch aufgequollenem „l“)
den sie in Zürich machen wollen
„Die letzten Acht? Das schaffen wir!“
Und als der „Chef“ sie dann befragt
was sie zu Mittag essen wollen
hat Alfred Pfaff den besten Vorschlag
„Ungarisches Gulasch, klar!“
Und so tilgen sie die Schande
mit Spaghetti und Salat
Die ganze Wut der deutschen Presse
sie bleibt außen vor in Spiez
„Schwerster Schlag für Deutschlands Fußball!“
bringt die BILD es auf den Punkt
„Beschämend!“ weidet sich die WELT
an der nationalen Schmach
Fritz Walter darf die Briefe lesen
die Sepp Herberger erreichen
„Höchste Zeit, dass Sie verschwinden“
„Hängen Sie sich endlich auf“
Daß der listige Stratege
seine guten Gründe hatte
den Ungarn erst mal auszuweichen
dem ausgemachten Favoriten
dieses Fußball-Weltturniers
und ganz auf die Türkei zu setzen
die es auszuschalten gilt
um den großen Schritt zu tun
unter die acht besten Teams –
Niemand in Deutschland will das glauben
Lange lag sein Schlachtplan fest
wie er das Reglement der Spiele
für seine Mannschaft nutzen wollte
Einsam ist der Mann gewesen
als er das entscheiden mußte
Das Risiko war hoch genug
es konnte ihn den Kragen kosten
den deutschen Fußball schwer beschädigen
gerad erst wieder zugelassen
auf internationaler Bühne
Heute sind sich alle einig
über diesen frechen Schachzug
doch heute ist das leicht gesagt
Geschichte hat den Spruch gefällt
Der Einbruch gegen Ungarns Team
die vorgeplante Niederlage
im Sankt Jakob-Stadion Basel
ist die Wurzel jenes Wunders
das sich bald begeben sollte
zwei Wochen später: Vierter Juli
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