Mit Williiiiiiiie auf Schalke

von Rolf Nöckel

Rolf Nöckel - Foto © Frank Becker
Mit Williiiiiiiie auf Schalke
 
So ein Glück: Fritz mußte ins Krankenhaus. Nichts Ernstes, aber jedenfalls konnte er nicht mit seinen Kumpels zum Fußball nach Gelsenkirchen fahren. „Dann nemm´ doch dä Jung mit op minge Kaat.“ So klang liebenswertes Bergisches Platt, die allerschönste Musik in meinen Ohren. Denn „dä Jung“, das war ich. Und die „Kaat“, das war eine Tribünenkarte für ein Heimspiel von Schalke 04, den Fußballklub, für den mein Sportlerherz schlug. Damals schon, 1963. Als Amerikas Präsident Kennedy beteuerte: „Ich bin ein Berliner.“ Als Posträuber in England ein großes Ding drehten. Als Deutschland sogar schon ein zweites Fernsehprogramm hatte.
     Fritz, Heinz, Werner, mein Onkel und mein Vater - sie waren die „Fünf Freunde“ in den Zeiten meiner Kindheit. So war die Welt in der Adenauer-Ära: fünf Tage Maloche, der Sonntag für die Familie, der Samstag für den Fußball.
     „Blau und Weiß, wie lieb' ich dich“: Immer wieder dudelte am Freitagabend die kleine Schallplatte in der scheppernden Phono-Truhe, stundenlang. Besonders fasziniert war ich von der Strophe „Tausend Freunde, die zusammen steh´n, dann wird der FC Schalke niemals untergeh´n“. Kieksig, aber voller Inbrunst und sehr laut, sang ich mit. Meine Mutter verdrehte die Augen und floh kopfschüttelnd in die Küche. Dann kam Vater von der Arbeit: „Da ist sie“, sagte er nur und drückte mir einen Papierschein in die Hand. „Samstag, 24. August, Glückauf-Kampfbahn, Schalke 04 gegen VfB Stuttgart, Anstoß 17 Uhr“ las ich da. Sämtliche Glücksgefühle, die einen Zehnjährigen übermannen können, durchströmten mein Herz. Der allererste Bundesliga-Spieltag - und ich durfte dabei sein! Zum ersten Mal würde ich mir den Duft der großen Welt in der legendären Glückauf-Kampfbahn um die Nase wehen lassen. Wo vor Jahrzehnten schon legendäre Fußball-Könner den Schalker Kreisel drehen ließen und sieben Deutsche Meistertitel erobert wurden. Nur noch einmal schlafen.
     Die doofe Rechenarbeit morgens in der Schule, die hab' ich locker verhauen. Ich konnte an nichts anderes denken als immer nur an das Eine: zwölf Uhr Abfahrt. „So früh?“, hatte ich noch naiv gefragt. Ich war halt zu unerfahren, um zu ahnen, daß jeder Höhepunkt - auch ein sportlicher - ein Vorspiel hat. Zum Beispiel war das Schnäpsken bei Opa Pflicht. Er blieb zu Hause und drückte bei der Radio-Reportage von Kurt Brumme die Daumen. „Auf zwei Punkte!“ Das zweite Schnäpsken. Mein Onkel und ich tranken Zitronenlimo. Für mich war's einfach lecker, für meinen Onkel nur sauer, denn an diesem Samstag war er dran als Steuermann. Also galt für ihn das Motto: keinen Tropfen. Endlich! Vier Große mit Hut und ein Kleiner mit Lederhose starteten in einem (selbstverständlich) blauen Opel-Rekord von Velbert über Essen-Kupferdreh Richtung Gelsenkirchen. Die „Schalker Freunde“ wußten natürlich genau, wo sie einen günstigen Parkplatz finden. Zwischen Stadion, Zechentürmen und Backsteinsiedlungen der Bergbauer, mittendrin.
     Erste Station: die verrauchte Kneipe von Werner Kretschmann, dem früheren Klasse-Verteidiger, am Schalker Markt. Die Luft war zum Schneiden. Hundert Männer und ein Zapfhahn. Koteletts mit Papierservietten wurden über den Köpfen der Fans durchgereicht. „Stahl und Eisen“, eine seltsame Mischung aus Boonekamp und Klarem, machte Mut fürs Match. In der Ecke, neben der Klo-Tür, stand der erste Flipper-Automat, den ich in meinem Leben sah. Das Klack-Klack-Klack der Kugel gab den Takt an im Gejohle der Menschen. „Blau und Weiß“ dröhnte vom Plattenteller. Ich war fasziniert von der Atmosphäre der Großen und dachte begeistert: „So also sieht ein Vorspiel aus!“
     Zweite Station: der Lotto- und Tabakladen von Ernst Kuzorra, dem Alt-Internationalen, dem Denkmal der ganz großen Schalker Zeit. Er stand hinter der Theke, höchstpersönlich, strich mir übers Haar und sagte mit der rauhen Stimme eines alten Kämpen: „Die putzen wir heute, nich?“ Ich nickte nur und machte große Augen. Vater kaufte eine Runde Zigarren. Und ich bekam eine Autogrammkarte vom alten Idol. Noch heute ist sie ein kleiner Schatz.
     „Uuuuund hier gibt's die Stadionzeitung. Der Kreisel, der Kreisel! Kauft den Schalker Kreisel! Die Aufstellung, letzte Nachrichten“ Noch ein paar Minuten Fußweg, dann drängelten wir inmitten von 34 000 Besuchern durch die Eisentore des Fußball-Tempels. Noch fünf „Würstkes“ mit Senf und ab auf die Tribüne.
     Halb fünf. „Ohne Dortmund wär“ hier frische Luft“, frotzelte mein Onkel. Schräge Töne. Es war das erste Mal, daß ich die Rivalität der zwei Reviervereine hautnah mitbekam. 17 Uhr, Anpfiff. Blau-Weiß gegen Rot-Weiß. Die Bundesliga-Geschichte nahm ihren Lauf. Und Schalke machte Dampf. Ich rief „Ja“ und „Foul“ und „Buh“ und „Schiedsrichter, Telefon“ und fühlte mich einfach großartig. Mein Liebling im Team war der „Schwatte“ Koslowski im Mittelfeld. Der ackerte und rackerte. Der kriegte dauernd auf die Knochen und kämpfte trotzdem weiter. Und Manni Kreuz mochte ich, den Mann mit dem unglaublichen linken Bums, der mit einem Freistoß aus 30,35 Metern schon so manches Spiel entschieden hatte. Und da war der Neue im Sturm: Reinhard Libuda, 19 Jahre, Flügelflitzer. Irre, wie das schmächtige Kerlchen seine Haken schlug und die Stuttgarter Abwehr durcheinander wirbelte. Ein paar Monate später nannten ihn alle nur noch „Stan“ nach Stanley Matthews, der Dribbler-Legende aus England. „Zum Schießen“ fand ich den Stuttgarter Torwart Sawitzki mit seinen dicken Knieschonern, Flatterhose und Schlägermütze. Ein Abwehrspieler der Schwaben hieß Rudi Entenmann. „Haha, so Watschelt der auch rum“, sagte ich laut und bekam anerkennende Lacher aus der Erwachsenenwelt. Doch Stuttgart war stark. Sogar „Williiiiiiiie“ Schulz, der harte Mittelläufer, geriet im Dauerregen ins Schwimmen. Bei einem Zweikampf verlor er sogar einen Schuh. Aber weil das Spiel nicht unterbrochen war, spielte und kämpfte er einfach weiter mit dem Schlappen in der Hand. Vier, fünf Minuten lang. War das stark!
     Als keiner mehr einen Pfifferling auf Schalke gesetzt hätte, gab´s einen Doppelschlag: Zehn gute Minuten vor der Pause reichten, um Stuttgart auszuknocken. Koslowski ballerte das Leder unter die Latte und ins Netz. Hermann und Gerhardt besorgten im Duett locker-leicht das 2:0, und dabei blieb es bis zum Abpfiff. Nach dem Spiel ist vor dem Spiel: Zurück in Velbert wurde in der Gaststätte „Op de Eck“ heftig diskutiert und analysiert. Natürlich erwarteten schon Dutzende Fans die Glücklichen aus dem Stadion, die „live“ beim ersten Bundesliga-Sieg dabei waren. Eine letzte Limo für den Jung, ein Teller „Ärpelschlot met Bröttschen“, und dann ab nach Haus ins Heia-Bettchen. Groggy, aber glücklich.
     Noch oft habe ich später den FC Schalke 04 angefeuert. Ich habe im zugigen Parkstadion gefroren und in der neuen Arena Ohrensausen bei dem tosenden Lärm bekommen. Mein Sportlerherz schlägt weiter für Blau und Weiß. Aber nie mehr war es so schön, so intensiv, so unschuldig, so faszinierend wie damals, beim Bundesliga-Auftakt 1963. Mein Wunsch für diese Saison? Klar: Einmal den Bayern die Lederhosen ausziehen. Deutscher Meister werden. Zum ersten Mal in der Bundesliga.
     Einmal Schalker, immer Schalker.
 
Rolf Nöckel (1953-2017)

aus: ... der Bossspielt im Himmel weiter"
Fußball-Geschichten aus dem Ruhrgebiet
© 2010 Bücher vonne Ruhr Henselowski Boschmann