Büro

von Alfred Miersch

Umschlagillustration: Berndt Höppner
Büro
 
Teppichboden. Leben mit Hydrokulturplantagen, Kantinenmarken, Fahrgeldzuschuß. Der gekonnte Einstieg jeden Tag in den überfüllten Fahrstuhl, Türen werden geöffnet-geschlossen. Aktenbündel werden spazieren getragen. Eingangsstempel. Zur besonderen Beachtung. Hochachtungsvoll. Sie öffnet vorsichtig den Schreibtisch. Schublade heraus-hinein. Verlegen fragt sie nach Kugelschreibern, die Neue.
     Teppichboden überall. Landschaften tun sich auf voller aneinandergerückter Schreibtische. Kaffeemaschinen. Handakten. Alle finden Zuflucht in ihrem Sachgebiet. Die Maschine dem Mechaniker. Die Ablage dem Azubi. Der Abfall der Putzfrau. Der freundliche Gruß dem Chef. Jeder ist sich selbst der Nächste. Hinter einem freundlichen Lächeln vermutet man Verhältnisse. Aus Betriebsfestamouren werden Tretminen. Das Verhältnis des Herrn aus der Werbeabteilung mit dem Fräulein aus der Registratur: Der Skandal der Firma. Aschenputtel will König. Unbeantworteter Morgengruß im Fahrstuhl. Kichern im Großraum beim Vorübergehen. Einzelplatz in der Kantine. Die Stechkarte versteckt unter 180 Namen.
     Der eine fälscht Portolisten. Der andere zahlt sein Defizit immer wieder aus eigener Tasche. Briefe verschwinden in Papierkörben. Müller wäscht sich ständig die Hände. Klagt über Zugluft. Kann den Locher nicht mehr betätigen. Rothmann ist im Aufzug gesehen worden, als er immer wieder auf Nothalt stellte. Kolbe hat auf seinen Schreibtisch gespuckt. Fräulein Schibulski hat gesungen und ihren BH aufgehakt. Krothe hat versucht, die Auszubildende zu küssen. Niemand von ihnen hat im Lotto gewonnen. Für ihr Verhalten gibt es keine Erklärung.
     Teppichboden überall. Das ganze Leben gedämpft. Kalenderbilder an den Wänden. Milchdosen und Streichkäse draußen auf dem Fensterbrett. In der Etagenküche ein Trinkglassortiment aus Senfgläsern und angestoßenes Porzellan aus der Wiederaufbauzeit. Draußen vor dem Fenster Autounfälle. Demonstrationen. Überfälle. Danach sucht man am nächsten Morgen in der Zeitung. Gesprächsstoff für das Kantinenessen.
     Die Seele zwischen Existenzangst und Fotosafari. Meterlange Postkartenketten, mit Tesa aneinandergeklebt. Der Duft der Welt. Grüße mit zum Kartenende immer kleiner werdender Schrift. Die gefürchtete Urlaubsvertretung, die alles umorganisiert. Nachlässigkeiten brandmarkt, stets den Schuldigen benennt. Immer mit Draht zum Chef. Eine große Familie. Der Betriebssportverein. Die Betriebsversammlung. Der Betriebsunfall. Die Betriebskasse. Der Betriebsradikale.
     Teppichboden überall. Verharren zwischen Bildschirmgeräten und Familienfotos am Schreibset. Sehen wie der Kopf zuwächst. Das Leben geordnet wie die Bleistifte. Bitte ein einfacher Bogen, zwei Durchschläge. Tragen Sie die Urlaubstermine der nächsten fünf Jahre ein. Eine Minute vor Feierabend beginnt am Kalender schon der nächste Tag.
 
 
© 1992 Alfred Miersch