3 : 2 für die Ewigkeit

Ein Heldenepos in elf Gesängen - Neunter Gesang

von Michael Zeller
3 : 2  für die Ewigkeit
Ein  Heldenepos in elf Gesängen
 
Von Michael Zeller
 
Die Wahrheit is auf’n Platz
und der Mythos sitzt im Kopf
Adi Preißler/M.Z.
 
 
 
Neunter Gesang
 
Brenne müsst Ihr, Männer, brenne!“
Heute ist er überflüssig
dieser Kampfruf Herbergers
denn seine Männer glühen längst
vor dem großen Augenblick
der ihr Lebensschicksal wird
am vierten Juli Vierundfünfzig
gegen Ungarns „Wunderelf“
das absolute Maß der Zeit
 
Traumhaft sind die eingespielt
als Angehörige der Armee
Der einzige Dienst ist der am Ball
sie lassen bloß die Kugel rollen
tagein tagaus, von früh bis spät
Mehr wird von Ihnen nicht verlangt
Auch in der Schweiz lebt es sich munter
Sie flanieren durch die Straßen
gönnen sich ihre Zigarettchen
und zucken nicht bei einem Bier
wenn es ein hübsches Mädel bringt
 
Wen sollen sie fürchten auf der Welt?
Seit gut vier Jahren ungeschlagen
auf allen Plätzen um den Globus
Olympiasieger Zweiundfünfzig
das stolze England weggeputzt
auf Wembleys heiligem Rasensamt
Das hatte keiner noch geschafft
Und dann: Die „Sonnenschlacht“ von Basel
hier in der Schweiz vor vierzehn Tagen
Der leichte Sieg ist unvergessen
bei den Ungarn, bei den Deutschen
in allen Köpfen sitzt er fest
 
„Brenne müßt Ihr, Männer, brenne!“
Doch wie sieht ein Brennen aus
wenn es schon seit Stunden regnet?
Wie sehnlich haben sie gewartet
die deutschen Spieler, seit dem Morgen
daß sich endlich Wolken bilden
und für sie den Rasen tränken
schnell zu machen für ihr Spiel
Seit Jahrzehnten weiß der Mythos
daß am Tag des Berner Endspiels
ein „Fritz Walter-Wetter“ herrschte
- „Fritz sei Wedder“: Das ist Regen -
und hob die Stimmung mächtig an
beim ungesetzten Außenseiter
zum ersten Mal in einem Endspiel
international ein Niemand
auf den im Ernst kein Fachmann schwor
Londons Zockbüros längst dicht
wenn wer auf Ungarn wetten wollte
 
Bloß der Regen, Fritz sei Wedder
Daran halten sie sich fest
als sie das Spielfeld jetzt betreten
siebzehn Uhr, in Reih und Glied
vorne Puskas und Fritz Walter
Wenn man sich die beiden anschaut
wie sie die ersten Schritte setzen
auf den regennassen Rasen
sind die Rollen klar verteilt
Ein Schritt voran geht Major Puskas
ein untersetztes Kraftpaket
mit muskelprallen Oberschenkeln
Rund wie die Sonne, selbst im Regen
füllt ein Lachen sein Gesicht
das trübt kein Zweifel an dem Sieg
So sieht Selbstbewußtsein aus!
 
Dahinter kommt Fritz Walter. Zierlich
Ein schlanker Mann. Die Stirn in Falten
Geradeaus den Blick gerichtet
ins Leere hin. Er scheint zu zögern
Ein Grübler eher, in Gedanken
Soll man glauben, daß der brennt?
Müßte ein inneres Brennen sein
das von außen keiner wahrnimmt
 
Noch breiter darf gleich Puskas strahlen
puska heißt zu Recht „Gewehr“
in seiner schönen fremden Sprache
Nach sechs Minuten schießt er ein
reißt die Arme hoch, bleibt stehen
wird von den Seinen abgeholt
zum Anstoßkreis. Ein Triumphator
Und als es, zwei Minuten später
wieder bei den Deutschen klingelt
weil Kohlmeyer und Turek patzen
wird manche böse Ahnung wach
Ob Hitzeschlacht, ob Fritz sei Wedder
Die „Wunderelf“ scheint nicht zu stoppen
von diesem biederen Außenseiter
 
Dem „Boss“ dagegen liegen Ungarn
packt sich den Ball nach diesem Rückschlag
haut ihn dem Grosics auf den Kasten
Er kommt nicht durch, der Ball bleibt hängen
Da rennt mit Riesenschritten Morlock
wirft sich in die Bahn des Leders
sein rechtes Bein wird lang und länger
rutscht auf dem regenglatten Rasen
mit dem linken Knie, halb liegend
rutscht und rutscht, gewinnt an Fahrt –
Mit dem Rand der großen Zehe
erwischt er gerade noch die Kugel
und schiebt sie in die Maschen rein
Fritz sei Wedder! Kein Gerede
 
Nein. Heute soll’s kein Basel geben
Die Deutschen haben Blut geleckt
(soll man nicht besser „Regen“ sagen?)
Ecke von links. Fritz Walters Sache
eine von den schärfsten Waffen
Mit viel Effet zum langen Pfosten
weit über Grosics’ Faust gehoben
in den Ecken sichern zwei
Der Ball fällt runter. Rahn steht frei
Mit Dropkick faßt er sich ein Herz
und drischt ihn herzlos just dahin
wo das Loch klafft: mittenmang
Ein Boss läßt sich nicht zweimal bitten
 
Achtzehn Minuten sind gespielt
Zwei Tore Ungarn, zwei für Deutschland
doch mit Vorteil für die Deutschen
Sie haben einen fetten Rückstand
in zehn Minuten wettgemacht
Die Stimmung in der Halbzeitpause
entsprechend gut in der Kabine
 
Sie wittern: Heute ist was drin
Das Bällchen läuft, der glatte Rasen
kommt ihrem Sturmspiel stark entgegen
Und die Ungarn? Sind zu packen!
„Karl, wenn Sie den Kocsis halten
und der uns heut kein Tor verpaßt
dann haben Sie Ihr Spiel gemacht!“
Der „Chef“ hat Karl Mai aufgestachelt
von der Spielvereinigung Fürth
Und der Charly hält brav Wort
Er steht dem Kocsis auf den Füßen
wohin der immer sich bewegt
gibt keinen Millimeter preis
Außer diesem Lattenkracher
geht der Mann leer aus in Bern
 
Die deutsche Hintermannschaft steht
von Spiel zu Spiel stabil geworden
Sie brennen alle, selbst im Regen
und so erlebt das Wankdorf-Stadion
ein ausgeglichenes Fußball-Endspiel
Keiner hat damit gerechnet
der von Fußball Ahnung hat
Von einem Strafraum hin zum anderen
wird Ball um Ball nach vorn getrieben
abgewehrt, zum Gegenangriff
Minute für Minute weicht
Jeder von den Zweiundzwanzig
weiß: Das nächste Tor entscheidet
Wem wird zuletzt die Sonne scheinen
im fadendichten Dauerregen
am vierten Juli Vierundfünfzig?
Vielleicht gibt’s auch Verlängerung
Wer hätte dann den längeren Atem?
 
Bis heute spüre ich den Kitzel
wenn der Moment des Berner Wunders
die vierundachtzigste Minute
geschieht: beim Tor der Seligkeit
das Geschichte machen sollte
Laßt uns alle noch mal schnaufen
daß das süße Glück von damals
ganz in unsere Adern träufle
wie ein gelungener Koitus
Niemals – niemals soll sie enden
die vierundachtzigste Minute
im Wankdorf-Stadion zu Bern
bis an den Rand des kühlen Grabes
 
 
 © Michael Zeller

(Erstveröffentlichung in den Musenblättern)