Zehnter Gesang
Wer redet noch von Breitners Elfer
nach der Hölzenbein’schen Schwalbe
der eine ungeliebte Mannschaft
im eignen Land zum Champion machte
neunzehnhundertvierundsiebzig?
Und geht es Brehmes Strafstoß besser
im Olympiastadion Rom?
Brachte zwar den dritten Titel
im Jahr der deutschen Einigung
ganz in SchwazRotGold getränkt
Er traf das Tor, doch nicht die Seele
Selbst Götzes Eins zu Null in Rio
im Jahr des Herrn 2014
mit feinem Füßchen eingeschenkt
kann ihm nicht das Wasser reichen
diesem Tor des Helmut Rahn
Was war so anders, Vierundfünfzig?
Warum ist dieses Tor von Rahn
aus Minute vierundachtzig
dieses Tor zum Drei zu Zwei
gegen Ungarns „Wunderelf“ –
warum bleibt es das Tor der Tore
schon in der dritten Generation
die für Deutschlands Fußball fielen?
Und mehr als das: ein Stück Magie
ein Momentum von Geschichte
darf in keiner Chronik fehlen?
„Helmut sein Tor“ zum Drei zu Zwei
fiel in Schwarzweiß, in kleinem Kasten
der meist in einem Wirtshaus stand
in der Säuglingszeit des Fernsehens
(das Glas Bier zu vierzig Pfennig)
Doch für fast alle Fans im Lande
war das Tor ein Hör-Ereignis
Vor dem Volksempfänger sitzend
hörten wir Herbert Zimmermann
als seine Stimme überkippte
„Tor! TOOOR!“ schrie er, immer wieder
„Tor für Deutschland, Drei zu Zwei!“
„Halten Sie mich für übergeschnappt“
bot er seinen Hörern an
die sich die Daumen blutleer drückten
für endlos lange sechs Minuten
„Geh doch schneller, geh doch schneller“
befahl er dem Sekundenzeiger
der Uhr im Wankdorf-Stadion Bern –
beste Schweizer Wertarbeit
Ein Tor der Ungarn war zu melden
uns entsetzten Ohrenzeugen
doch es fiel – gottlob – aus Abseits
Dann „Aus! Aus! Aus!
Das Spiel ist AUS!“
Und damit war ein ganzes Volk
am vierten Juli Vierundfünfzig
vom kleinen Bub bis zu uns Oma
Fußballweltmeister geworden
genau neun Jahre nach dem Krieg
Jetzt aber wollen wir endlich s e h e n
mit unserem inneren, besseren Auge
wie „Boss“ Rahn das Tor erzielte
das sein Lebensschicksal wurde
und Deutschland einen Mythos schenkte
durchaus von der besseren Sorte
Schäfer erkämpfte sich den Ball
aus den Füßen von Buzánsky
flankt ihn auf die rechte Seite
in das Revier von Helmut Rahn
Mit Riesenschritten geht der ab
rechtsfüßig faßt er sich den Ball
Die Position ist gut genug
für einen Schuß auf Grosics’ Tor
Zwei Verteidiger werfen sich
ihm mit den Leibern in die Bahn
Doch Rahn schießt nicht. Er reißt den Köper
im vollen Lauf nach links hinüber
Die beiden Ungarn sind vergessen
Jetzt ist die Lücke groß genug
achtzehn Meter vor dem Tor
Vollspann mit dem linken Stiefel
den Oberkörper überm Ball
daß der Schuß schön flach gerät
jagt Rahn die Kugel auf den Kasten
Grosics ist ein langer Kerl
und im Flug wird er noch länger
unterwegs ins linke Eck
Vielleicht berührt er noch das Leder
doch zu halten ist da nichts
Auf regennassem glattem Rasen
(„Fritz sei Wedder“, immer wieder)
flitzt das Leder in den Winkel
des Tors hinein und wieder raus
so schnell ist seine Fahrt gewesen
Auch Helmut Rahn liegt auf der Nase
der eigene Schwung wirft ihn dahin
doch auch fallend kann er’s sehen
Dat Dingen paßt. Voll eingeschlagen
Wie lange dauert noch das Spiel?
Sechs Minuten? Das könnt reichen
Dann hätten wir den Pott geholt
und ich – ich hab es reingemacht!
So ist es dann ja auch gekommen
Das Schicksal hat es gut gemeint
mit „Boss“ Rahn und mit uns allen
Sein Drei zu Zwei im Berner Endspiel
steht heute noch in der Vitrine
Ich entdeck kein Korn von Staub
auf dem Ehrenplatz mit Deckchen
für gelungene Momente
in der Geschichte unseres Landes
und das jetzt schon seit ewigen Jahren
Schwer war’s für Rahn, damit zu leben
für einen Mann von Fünfundzwanzig
Alltag ist ein langer Tag
für einen Helden viel zu lang
Alkohol, Fahrerflucht und Knast
der Fluch des Karriere-Endes
Viele Brücken riß er ab
selbst zu seinen Berner Freunden
Wenn Herberger sie zu sich lud
fehlte Rahn als einziger
wollte davon nichts mehr wissen
Bestimmt hat er das Tor verdammt
in besonders bösen Stunden
das ihn in den Schatten stellte
und ihm keine Zukunft gönnte
mit gerade fünfundzwanzig Jahren
Die Tat war größer als er selbst
Ein paar Wochen nach dem Spiel
sitzt der „Boss“ bei sich zu Hause
im Essener Stadtteil Katernberg
und hört sich zum ersten Mal
die Radioreportage ab
Wir alle kannten sie ja längst
„Während ich seine Stimme hörte
die kippte vor Begeisterung
saß ich still in meinem Sessel
Langsam kullerten die Tränen
kullerten die Backen runter
Schämen? Nein, das tat ich nicht
So dramatisch! So großartig!
So überwältigend ganz einfach!
Und ich – ich bin dabei gewesen“
Die „Berner Mannschaft“, diese Elf
von Toni Turek bis Hans Schäfer
ist ein Unikat geblieben
Niemals mehr spielten sie zusammen
Elf Wege kreuzten sich einmal
am vierten Juli Vierundfünfzig
auf dem Gipfelpunkt der Erde
und liefen danach auseinander
in die Ebenen des Alltags
Ein Wunder ist nicht wiederholbar
Drei/Zwei für die Ewigkeit
© Michael Zeller
(Erstveröffentlichung in den Musenblättern)