3 : 2 für die Ewigkeit

Ein Heldenepos in elf Gesängen - Elfter Gesang

von Michael Zeller
3 : 2  für die Ewigkeit
Ein  Heldenepos in elf Gesängen
 
Von Michael Zeller
 
Die Wahrheit is auf’n Platz
und der Mythos sitzt im Kopf
Adi Preißler/M.Z.

 
Elfter Gesang
 
Als kennten wir uns schon ein Leben
so vertraut ist mir der Mann
dem ich noch nie begegnet bin
Bloß auf ein paar kleinen Fotos
in Schwarz-Weiß. Da war ich Kind
und er ein junger Fußballspieler
Weißes Leibchen, mit dem Adler
knielang fast die schwarze Hose
in der Stirn das dunkle Haar
sein Mund steht offen, ist verzerrt
Arm an Arm mit einem Ungarn
ernst und angestrengt auch der
Das Objekt, worum sie eifern
hält die Kamera nicht fest
Nur der Moment des Kampfs ist wichtig
da sich zwei junge Männer messen
konzentriert und ganz bei sich
auf der Höhe ihrer Kraft
nach den festgeschriebenen Regeln
Die Arme bleiben aus dem Spiel
angelegt, sie sind tabu
 
Ein zweites Foto, das ich sah
als ich gerade lesen konnte:
Der Jüngling in dem weißen Sporthemd
der in der Tür jetzt vor mir steht
als ein Mann von sechzig Jahren -
Ich sah ihn in der Hocke sitzen
hockt da mit anderen seiner Art
die Haare aus der Stirn gestrichen
verschwitzt und regennass und lacht
wie alle anderen um ihn
Elf Männer. Alle lachen sie
Glück in ihr Gesicht geschrieben
Erschöpfung in den hohlen Wangen
Zweifel auch zeigt dieses Lachen
Ist’s denn wirklich – WIRKLICH wahr?
Sind wir Opfer, sind wir Täter?
Macht sich jemand einen Spaß
ruft nachher „April, April!“?
Hat gerad ein Wunder stattgefunden?
 
Beinah vierzig Jahre später
steht er leibhaftig in der Tür
Klar, das ist er. Keine Frage
auch ohne dieses junge Lachen
Um den Mund, der vage lächelt
sind scharf die Kanten eingeschnitten
und ein flaches, fernes Lächeln
Mehr als neunzig Minuten Mühsal
ist in dem Gesicht vergraben
Der knallbunte Trainingsanzug
neuester Machart sieht salopp aus
doch die Zerbrechlichkeit der Jahre
kann selbst das kühnste Sportdesign
nicht aus unseren Körpern drängen
Ja, auch Fußballgötter altern
 
Charly Mai war Außenläufer
Vor der Abwehr spielte er
defensives Mittelfeld
Sándor Kocsis war sein Mann
im legendären Berner Endspiel
am vierten Juli Vierundfünfzig
den er kaltzustellen hatte
„Goldköpfchen“ nannten ihn die Ungarn
trotz seines dunkelbraunen Schopfes
denn mit dem Kopf, kaum mit den Füßen
machte er seine vielen Tore
Elfmal schon hatte er getroffen
bisher bei diesem Weltturnier
mit weitem Abstand Schützenkönig
„Bei mir hat der kein Tor gemacht“
stellt Karl Mai fest. Lächelt nicht
„Und heute ist der Kocsis tot“
Beides von weither gesagt
als käm’s aus einem anderen Leben
„Man war so auf den Mann gedrillt
den man auszuschalten hatte
daß man gar nicht mitbekam
wie das Spiel da vorne ablief“
 
Wir sitzen in Mais Party-Keller
Mein Gott, so etwas gibt es noch?
Wuchtig die Hausbar, Eichenbalken
und alle Wände holzverschalt
Viel Platz für Wimpel und für Fotos
natürlich aus dem Heldenleben
Die Gesichter kenn ich alle
besser als die meiner Onkel
haben sich mir eingebrannt
die werde ich wohl nie mehr los
„Und heute? Gehen Sie noch ins Stadion
von Ihnen aus kaum zehn Minuten?“
„Wenn man die heute spielen sieht - “
Karl Mai winkt ab. Der Satz bleibt offen
„Macht einer mal ein gutes Spiel
ist gleich ein neuer Star geboren
Ein Star! Vielleicht im Geldverdienen …
Stecken Millionen in die Tasche
So gut kann einer gar nicht sein
Fußball ist doch Mannschaftssport
Bei uns gab’s damals keine Stars
Die Schuhe putzten wir uns selber
als wir in Bern Weltmeister wurden“
 
„Fritz Walter?“ klopf ich leise an
„Der war der Liebling, klar, vom Chef
und auch der Rahn durft mehr als andere
Wenn der um sechs Uhr in der Früh
herumschrie, daß die Wände wackeln
dann hieß es bloß: Na, ja, der Boss
der Helmut eben. Ja, der Chef …
Wenn ein anderer aus der Mannschaft
so auf den Putz gehauen hätte - “
 
„Und Ihr Verhältnis zu dem Trainer?“
„Respektsperson! Gar keine Frage
Autorität, da gibt es nix!“
Trocken kommt der Kommentar
Unbewegt bleibt seine Miene
die Stimme in der gleichen Lage
als hätt’ das nichts mit ihm zu tun
Sein Lachen aus den Schweizer Tagen
hat sich aus dem Gesicht verloren
kein Mal erkenn ich’s heute wieder
Vorbei die Zeit in kurzen Hosen
 
„Und Sie persönlich?“ will ich wissen
„Hab halt den Mund nie halten können
auch wenn der Herberger dabei war
Vor irgendeinem Länderspiel
gegen Frankreich, glaub ich, ging’s
da saßen wir beim Abendbrot
Kalten Braten gab’s auf Platten
dazu Selters, Ehrensache
Da hab ich halt die Hand gehoben
weit oben saß der Chef am Tisch
und nickt freundlich zu mir runter
’Was habbe Se denn uff’m Herze?’
Ob ich ein Bier bestellen darf
damit der Braten besser rutscht
Keiner sonst hat sich gemeldet
‚Ja, Charly, trinke Se Ihr Bier’
Und jeder aus der Mannschaft, alle
haben sich dann ein Bier bestellt
Ich hätt halt öfter schweigen sollen“
 
„Beim nächsten Weltturnier, in Schweden
haben Sie da noch mitgespielt?“
Der defensive Außenläufer
scheint immer noch in ihm zu schlummern
Hart und kantig, unbeugsam
hat er seinen Part gespielt
niemals locker. Lockerlassen
durfte er als Spieler nicht
und wurde seine Lebenshaltung
Stimme, Miene unverändert
„Ausgebootet haben sie mich
Ich hatte Ärger im Verein
hier in Fürth. Ein neuer Trainer
Da ist es mir zu dumm geworden
und ich ging weg, zu Bayern München
Dem Herberger hat’s nicht gefallen
war halt eigen in so Sachen
und ich war aus der Mannschaft draußen“
 
 
„Das Ausland hat Sie nie gereizt?“
„Da gab’s so einen Italiener
aus Genua kam der, bot mir an
bei der Sampdoria zu kicken
Dafür hatten sie die Regel extra
im Deutschen Fußballbund gemacht
Wer Vierundfünfzig mit dabei war
und noch unter dreißig Jahren
den haben sie nicht ziehen lassen
Verzinkte Hunde waren das schon“
 
Selbst bei diesem derben Wort
bleibt die Stimme, wie sie war
Immer noch der Außenläufer
die Defensive Fleisch geworden
Keiner sprengt die Deckung auf
da war nicht nur der Kocsis machtlos
 
„Haben Sie Kinder?“ fällt mir ein
„Einen Chow Chow. Bubi heißt er
buddelt gerad den Garten um
Wollen Sie die Blumen sehen?
Das ist unser ganzer Stolz“
Auf der Terrasse stehen wir
im Garten vor uns Frühlingsblühen
noch abgedeckt das Schwimmbassin
Unterm Flieder macht Frau Mai
dem Boden Luft mit einer Hacke
und „Bubi“ zeigt die blaue Zunge
„Mein Garten“, sagt Karl Mai. „Mein Garten!“
im gewohnt staubtrockenen Ton
Ob Helden, frag ich mich jetzt doch
wohl nie Gefühle zeigen dürfen?
„Hier ist ständig was zu richten
Da reiß ich lieber Unkraut raus
als daß ich zum Ronhof geh“
Er nickt zum Stadion nebenan
von wo wir junges Schreien hören
 
„Wir hatten dreißigtausend Leute
in meiner Zeit, als ich noch da war
und spielten immer vorne mit
dreimal um die Meisterschaft
Damals haben sie geschlafen
die alten Herren im Verein
sind auf dem hohen Ross gesessen
und keine Mark wurd investiert
Damals fing das Unheil an
Dreihundertzwanzig Mark im Monat
das war alles, was ich sah
weil’s halt in den Statuten stand
In der Großstadt lief das anders
die haben tüchtig investiert
und heute stehen sie alle oben
Hamburg. München. Wo steht Fürth?
Da bin ich weg, zu Bayern München
Die wußten, was ein Spieler wert ist.
 
„Hier. Die Tulpen kommen nicht
Ich hab die Zwiebeln drin gelassen
über Winter, das war falsch
Wie eine Eins sind die gestanden
das ganze Beet, im letzten Jahr
Den Fehler mach ich nicht noch mal
 
„… Der Herberger – wenn ich so denke
ist schon ein krummer Hund gewesen
Fünftausend Mark als Titelprämie
sollten wir nach Bern bekommen
Wie ist der Alte hochgegangen
und hat getobt und Zeuch und War’
Vorschriften waren dem halt heilig
da kannte der Herberger nix
Fünfzehnhundert wurden’ s dann
für jeden einzelnen von uns
Mehr war nicht drin nach den Statuten
 
„Wir waren gerade frisch vermählt
meine Frau und ich, im Herbst
Jeden Pfennig brauchten wir
unsere Wohnung einzurichten
Fünftausend Mark, das hätt gereicht
für Möbel, was man halt so braucht
Bis zuletzt hab ich gehofft
daß der mal Memoiren schreibt
wenn er nicht mehr Trainer ist
Ein Renner wäre das geworden
so berühmt wie der doch war
fast mehr noch als der Adenauer
und würd das Geld uns Spielern geben
Wir haben ihm Erfolg gebracht
wir elf Spieler. Wer denn sonst?
So ein schöner Batzen Geld“
 
Das sagt der Berner Wunder-Mann
vierzig Jahre nach dem Endspiel
Für immer bleibt er Außenläufer
vor der Abwehr, defensiv
blieb’s bis zum letzten Atemzug
Der Kocsis hat ihn heimgeholt
in den Olymp für Fußballspieler
er brauchte seinen Gegenpart
Allein kann man nicht Fußball spielen
Im Jenseits wird’s kaum anders sein -
Sonst lohnt es sich ja nicht zu sterben
 
 
© Michael Zeller
 

(Erstveröffentlichung in den Musenblättern)