„Zeit für Busoni“ - Lecture Récital
Kirill Gerstein im Salzlager der Zeche Zollverein am 5.7.24
Von Johannes Vesper
Kurz vor dem Tod von Ferruccio Busoni (1866-1924) schrieb sein Schüler Kurt Weill über den Ausdruck von Glückseligkeit in den Gesichtern derjenigen, die für die Eintrittskarten von Musik im Konzertsaal damals bis zu einer Milliarde Mark bezahlt hatten. Zum Klavierabend von Kirill Gerstein kam das Publikum trotz des wichtigen Fußballspiels gegen Spanien.
Der in Rußland geborene Pianist ging bereits als 14jähriger an das Berklee College in Boston, studierte dort Jazz, wechselte zur Manhattan School of Music und zur klassischen Musik. Inzwischen gehört er seit Jahren zur Weltspitze der Pianisten. Seine Einspielungen wurden mehrfach ausgezeichnet- Er ist leidenschaftlicher Kammermusiker (u.a. mit Tabea Zimmermann Kolja Blacher, Clemens Hagen), spielt mit den Berliner, den Wiener, den New Yorker, den Münchener Philharmonikern, unterrichtete 2007-2017 an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, unterrichtet seit 2018 Klavier an der Kronberg Academy und lehrt als Professor an der Hanns Eisler Hochschule für Musik in Berlin, wo er lebt wie manche andere Pianisten seines Kalibers (Igor Levit, Daniel Barenboim, die Klavierduos Silver/Garburg, Grau/Schumacher s.u.). Mit Busoni beschäftigt er sich intensiv, hat jetzt „Busoni und seine Welt“ konzertant in der Londoner Wigmore Hall präsentiert.
Sein Recital im ehemaligen Salzlager Zollverein, einem Raum von Einfachheit, architektonischer Wucht und wunderbarer Akustik, umfaßte im 1. Teil Busoni. Kenntnisreich wie unakademisch erzählte Kirill Gerstein u.a. daß Ferruccios Mutter als Pianistin bei Franz Liszt Klavierunterricht hatte, daß er in einer ersten Phase bis ca. 1906 Musik kennengelernt und für eigene Kompositionen gesammelt habe. Als Beispiel dafür erklang die Elegie Nr. 1 nach „Nach der Wendung“, eine kurze Komposition, in welcher sich spätromantisch verflüchtende Harmonik episodisch oder in musikalischen Bildern ohne Dramatik aneinanderreihten. In seinem berühmten, Rilke gewidmeten „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ von 1906, auf deren schöne Faksimile-Ausgabe (Insel Verlag 1974) mit handschriftlichen Anmerkungen von Arnold Schönberg Gerstein eigens hinwies, interessierte sich Busoni zunehmend für eigene musikalische Ideen, Atonalität und die Freiheit der Musik. „Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung“ schrieb er und Schönberg dazu am Rand: „wie jede andere Kunst auch“. Merkwürdig, daß der Pianist Busoni keine Sonate für sein Instrument geschrieben, sich nur an Sonatinen gewagt hat. Seine Sonatina seconda (BV259) von 1912 beginnt mit isoliertem ernstem Thema im Baß. Hier wird seine Musikästhetik erstmal ziemlich konsequent hörbar. Der Hörer muß sich auf das Fehlen jeder Harmonik und der Pianist auf fehlende Taktstriche und Tonarten einstellen. Die „Berceuse elegiaque“ entstand als Orchesterstück nach dem Tod der geliebten Mutter. Der todkranke Gustav Mahler hatte das Stück in New York in seinem letzten Konzert dort uraufgeführt. Busoni hat das Werk später für Klavier umgeschrieben. Trotz Freiheit der Musik kommen immerhin Trauer und Melancholie auch in der Klavierbearbeitung intensiv zum Tragen. Bei der Sonatina Nr. 6 (1920) handelt es sich um eine Bearbeitung von Bizets „Carmen“. Bei den exzeptionellen Improvisationen in der Tradition Liszts flogen die Pianistenhände nur so über die Tastatur. Technische Schwierigkeiten scheinen für Gerstein nicht zu existieren.
Ob die zahlreichen Bearbeitungen des Komponisten fehlende eigene musikalische Ideen widerspiegeln? Jede Notation eines abstrakten musikalischen Einfalls könne als Transkription verstanden werden, zitiert Gerstein. War Ferruccio Busoni eher eklektizistischer Arrangeur? Oder kann seine höchst brillante Fülle von Tönen, mit Hintergrundvirtuosität aufgemischte Musik, kann der „Busoni-Filter“ (Gerstein) weitere Tiefen und emotionale Räume eröffnen? Kann das alles wie gelegentlich bei Franz Liszt als hohles Additiv abgetan werden? Vor der Pause war dann die Toccata BV 287 zu hören, „post-lisztianische, virtuose… Klaviermusik unter Verwendung von Polyphonie als Hommage an Bach“ (Gerstein). Für Busoni war „sein Klavier, was dem Araber sein Pferd war, seine Sprache, sein Leben“. Ähnliches gilt auch für den Pianisten, dessen Hände und Finger mit höchster Bravour und lebendigstem Temperament über die Tastatur jagten, wenn sie nicht sensibel und zart die Tasten streichelten. Kirill Gerstein ließ uns mit seinem kraftvollen wie kultivierten Spiel ausschnittsweise an diesen Leben teilhaben. Ein hochspannendes Bildungserlebnis.
Als Deutschland nach der Pause fußballerisch ausgeschieden war, ging es ohne Rede konzertant weiter mit der kraftvoll ernsten, fast orchestralen Polonaise in As-Dur op 61 von Frederic Chopin (1810-1849). Den „Faschingsschwank aus Wien“ op. 26 hatte Robert Schumann (1810-1856) im Jahre seiner Hochzeit mit Clara Wieck fertiggestellt (1840). Er selbst konnte das technisch anspruchsvolle Werk in Folge seines „Fingerübels“ (Tendovaginitis stenosans der rechten Hand) nie spielen. Clara hat den Schwank erst 1860 in Wien uraufgeführt. Als rauschend festliche Klaviermusik im Wechsel mit elegischen Seitenthemen spiegelt diese überbordende romantische Fantasie emotionale Höhen und Tiefen, auch Nachtstücke, Fasching halt. Mit markigen, vollgriffigen Klavierfanfaren begann die Polonaise Nr. 2 E-Dur von Franz Liszt. Mit sehr schnellen 16tel-Ketten im Diskant änderte sich bald die Stimmung. Ungeheuer geschwinde doppelte Oktavparallelen forderten den Pianisten. Erst in eingestreuten freien Pausen mit Fermate konnte wieder Luft geholt werden. Diskantgirlanden am Ende ließen an plätschernde Brunnen denken. Nach diesem gigantischen, pianistischen Feuerwerk der Sonderklasse brach endgültig starker Applaus aus und Blumen gab es, wofür sich der Pianist mit einem seelenvollen Walzer von Chopin und dem „Liebesleid“ von Fritz Kreisler in der Bearbeitung von Sergei Rachmaninow bedankte: Herzschmerz in lukullischer Fülle und Virtuosität.
Mit diesem Abend und zwei weiteren (Klavierkonzert op. 39 am 12.06.24 in Wuppertal mit Marc-Andre Hamelin und dem Sinfonieorchester Wuppertal (Patrick Hahn), Grau/ Schumacher am 6.7.24 ebenfalls im Salzlager der Zeche Zollverein) hat das Klavierfestival Ruhr kleine Busoni-Festspiele zum 100. Todestag veranstaltet.
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