Der britische Imperialismus in Indien bis 1947

Shashi Tharoor – „Zeit der Finsternis“

von Johannes Vesper

Koloniale Finsternis

Der britische Imperialismus in Indien bis 1947
 
Cricket, Tee und die englische Sprache: viel mehr hat Indien von den Briten nicht profitiert, schreibt der Autor und beklagt bitter, daß England den Indern die Selbstachtung genommen und 334 Jahre das Land systematisch ausgebeutet hat. Er schreibt, daß Indien, bevor die Engländer dort als Kolonialherren auftauchten, zivilisatorisch, wirtschaftlich, künstlerisch und wissenschaftlich den Ländern Europas weit überlegen und ein „glitzerndes Juwel“ der mittelalterlichen Welt gewesen sei.
 
Sehr umfangreiches Material verschiedenster Quellen wird vorgelegt. Dabei handelt sich nicht um eine Geschichte Indiens unter englischer Kolonialherrschaft, sondern um das journalistisch flott geschriebene Sachbuch eines Bestsellerautors, der in London geboren wurde, seit Jahrzehnten in Indien lebt, u.a. bei der Flüchtlingskommission der UNO gearbeitet hat, als Jurist und als einflußreicher wie prominenter Politiker im indischen Parlament gehört wird. Die Idee zu diesem Buch kam ihm nach seiner Rede (2015) vor einem Debattierclub in Oxford, deren Resonanz auf Twitter ihn stark beeindruckt hat. Ihm geht es um das Unrecht des englischen Kolonialregimes in Indien, um die ausbeuterische koloniale Gier des Imperialismus, wie sie sich jahrhundertelang im Raj gezeigt hat, schreibt, daß das von Großbritannien um 1600 (Gründung der East India Company) erwirtschaftete BIP (Bruttoinlandsprodukt, Wert aller Güter und Dienstleistungen, die in einem Jahr innerhalb der Landesgrenzen einer Volkswirtschaft erwirtschaftet werden) 1,8 % des weltweiten BIPs betragen habe gegenüber 23% des indischen. Ein exakter Beleg dafür findet sich nicht. Das BIP als statistisches Maß für den Reichtum von Staaten fand erst nach der Weltwirtschaftskrise 1929 Eingang in die in Wissenschaft.
 
Er beklagt die systematische Zerstörung der florierenden indischen Schiffahrt und des dortigen Schiffbaus durch die Engländer, nachdem sie 1613 die erste Niederlassung in Masulipatnam am Golf von Bengalen gegründet haben. Rund 5000 bengalische Schiffe mit jeweils ca. 500 Bruttoregistertonnen habe es im frühen 17. Jahrhundert gegeben. Durch Monopolbildung der britischen Handelsmarine nach der Schlacht von Plassey 1757, in Folge derer die Franzosen aus Indien verschwanden, wurden die indische Schifffahrt und der ehemals florierenden indische Schiffbau zerstört. Daß hier von einer Deindustrialisierung geschrieben wird, erstaunt, weil sich ja eine Industrie im historischen Sinne erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts überhaupt erst entwickelt hat. Wie zu dieser späteren Zeit England die indische industrielle Entwicklung tatsächlich eigennützig behindert hat, wird am Beispiel des „Raubs indischen Stahls“ bzw. der Stahlproduktion von Tata ausgeführt. Außerdem seien indische Investoren von den Engländern systematisch bei Produktion und Handel mit Tee und Jute benachteiligt worden. Die Ausbeutung Indiens durch Großbritannien habe pro Jahr bis zu 8% der indischen Bruttoinlandproduktes betragen, von 1835 bis 1872 seien pro Jahr 13 Millionen Pfund ohne Gegenleistung nach England ausgeführt worden. 1901 wurde der Nettobetrag des finanziellen Aderlasses aus Indien nach England mit 4.187.922.732 Pfund berechnet. Das Gehalt eines Staatssekretärs entsprach 1901 dem Durchschnitts-Jahreseinkommen von 90.000 Indern. Die Entwicklung des Reichtums in Europa seit Columbus ist tatsächlich vor allem Folge räuberischen Kolonialismus´ und der Sklaverei. Die Ausbeutung Indiens habe vor allem der Versorgung verarmten britischen Adels gedient, ist zu lesen. Dabei hatten die Engländer in Indien nicht mal gelernt, „sich ihren Hintern zu waschen“ wird 1765 aus damaligen indischen Zeitungen zitiert. Zugleich hatten sich die Engländer gesellschaftlich/rassistisch von den Indern abgeschottet. „Kein Zutritt für Inder und Hunde“ war damals auf Schildern vor Clubs, Hotels und anderen Einrichtungen zu lesen.
 
Die East India Company, gegründet 1600, seit 1613 in Indien, verlor nominell erst ihre Verwaltungsmacht im Land, als Indien nach dem großen Sepoy-Aufstand von 1857 die Verwaltung des Subkontinents direkt der englischen Krone in London übertrug. Dem Leser dieses Buches drängt sich schon ein bißchen auf, daß der Autor für alles, was noch heute in Indien schief läuft, die englische Kolonialherrschaft verantwortlich macht, obwohl er diese Deutung weit von sich weist. Stilistisch fallen Aggression und Polemik auf, mit denen er seine Kritik an den „bornierten“ Engländern immer wieder ausbreitet. Daß Winston Churchill von „tierischem Volk und einer tierischen Religion der Inder“ gesprochen hat, ist aber auch nicht allgemein bekannt. Einzelne Unschärfen scheinen locker im Text verstreut. (z.B. Daß die allgemeine Grundschulpflicht weltweit erstmalig 1819 erstmalig im indischen Königreich Travancore eingeführt worden ist, stimmt so nicht, in Zweibrücken schon 1592.).
 

Indien Gate in Neu Delhi für 90.000 indische Soldaten, gefallen für England im 1. Weltkrieg - Foto © Johannes Vesper

Immerhin findet sich für Interessierte ein Literaturverzeichnis am Ende des Buches. Das Buch erscheint trotz aller textueller Mißbräuche interessant und wichtig, weil bei der Lektüre der Zorn des globalen Südens auf Europa und seine Kolonialmächte bis hin zu Reparationsforderungen deutlich, nachvollziehbar und plausibel wird. Worauf Jawaharlal Nehru bei seiner Rede zur Unabhängigkeit verzichtet hatte, auf Schuldzuweisungen gegenüber den Briten, das holt der Autor mit diesem Buch nach. Seit 1770 sind bei Hungersnöten als Folgen des englischen Kolonialismus bis 1947 insgesamt 35 Millionen Inder an Hunger gestorben. Allein in Bengalen 1944 kamen bis zu 4 Millionen Inder um. 35 Millionen Hungertote Indiens sind vergleichbar mit den 22 Millionen Toten unter Stalin (Holodomor in der Ukraine) bzw. den 45 Millionen unter Mao, wenn diese Zahlen denn stimmen. Die Wirtschaftsanthropologen Jason Hickel und Dylan Sullivan schreiben von 100 Millionen Toten in Folge des englischen Kolonialismus in Indien allein zwischen 1880 und 1920. Mithu Sanyal zitiert in ihrem Nachwort die gleichen Autoren und spricht von sogar von 165 Millionen Toten. Sie verweist auf die weiterhin bestehende Relevanz des Neokolonialismus heute, wo nach der politischen Befreiung von den Kolonialmächten in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die wirtschaftliche Abhängigkeit des globalen Südens, die Ausbeutung seiner Bodenschätze durch billige Arbeitskräfte inklusive Kinderarbeit für das Leben im reichen Europa und Nordamerika nahezu ungebrochen abläuft. Wer heute bei EDEKA einkauft, ahnt nicht, daß die „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk von Berlin“ (E-D-K, gegründet 1898) in diesem Namen fortlebt. Das Buch stimmt nachdenklich. In Indien war es ein Bestseller. So werden die kolonialen Untaten Englands und Europas nicht vergessen, hoffentlich aber vergeben. Eine Zeittafel wichtiger Ereignisse erleichtert die Orientierung in der Geschichte Indiens, das Namenregister wie die Anmerkungen die Orientierung im Buch.
 
Shashi Tharoor – „Zeit der Finsternis“
Das britische Empire in Indien
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Mit einem Essay von Mithu Sanyal
Das Original erschien 2016 unter dem Titel „An Era of Darkness“ bei Aleph Book Company Neu-Delhi
© 2024 Die Andere Bibliothek (Aufbau Verlag Berlin), 477 Seiten, gebundene Ausgabe mit Lesebändchen - ISBN 978–3-8477-2058-4
48,- €