„Die Erde erbebte und die Felsen zerrissen“
Kantorei Barmen Gemarke: Johannespassion von Johann Sebastian Bach 2. Fassung
Die Kantorei Barmen Gemarke, 1946 von Helmuth Kahlhöfer als Kirchenchor gegründet, entwickelte sich unter seiner Leitung (bis 1987) bald zu einem Konzertchor und machte mit Schallplatten und Rundfunkkonzerten auf sich aufmerksam. Nach Manfred Schreier, Wolfgang Kläsener und Volker Hempfling übernahm Alexander Lüken 2020 den Chor, der vor drei Jahren zusammen mit der Kamea Dance Company aus Israel die Matthäuspassion choreografisch als Rückblick aus dem Jahre. 2727 höchst eindrucksvoll präsentiert hatte. Jetzt (30.03.25) stand die Johannespassion, und zwar deren 2. Fassung auf den Tag genau 300 Jahre nach der Uraufführung am 30.03.1725 in der Immanuelskirche, inzwischen Kulturzentrum, auf dem Programm. Warum Bach rund ein Jahr nach der Uraufführung eine 2. Fassung präsentierte, ist nicht klar. Die Uraufführung ein Jahr zuvor war wohl kein glänzender Erfolg. Er wird sie später noch zweimal überarbeiten. Die 2. Fassung beginnt dem Eingangschor „Oh Mensch bewein Dein Sünde groß“ und endet mit dem Choral „Christe, du Lamm Gottes, der Du trägst die Sünd der Welt“ bzw. mit „Gib uns Deinen Frieden (letzte Zeile). Mit Mahnung und Zuversicht umreißen Eingangs- und Schlußchor die Passion, deren Erzählung zwischen Anfang und Ende aber mit barocker, fast opernhafter Dramatik das Publikum fesselt.
Jetzt zur Aufführung: Als Orchester fungierte die Neue Hofkapelle Osnabrück (Konzertmeister Christian Heinecke). Das kleine Ensemble (sieben Geigen, 2 Bratschen, 2 Gamben, ein Kontrabaß, zwei Flöten, 2 Oboen) spielt auf historischen Instrumenten und ist spezialisiert auf Musik des ausgehenden 17. Und der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts. Entsprechend begann der Eingangschor orchestral für an historischen Orchesterklang ungewohnte Ohren eher zaghaft und dünn mit brüchigen Holzbläsern, gewann aber bald an Substanz und Stärke, spätestens bei Einsatz des Chores, der Hoffnung verbreitete („Den Toten er das Leben gab und legt dabei all Krankheit ab“). Der Evangelist Florian Feth (Tenor) erzählte zu stets souveränem und subtil begleitendem Basso Continuo (Johannes Geffert, Orgel) die unerhörten Geschichten von Judas, der den furchtlosen Christus verriet, sodaß er im Garten Gethsemane jenseits des Baches Kidron aufgestöbert und festgenommen werden konnte. In strenger Form, kühl, nie zu langsam kommentierten die Choräle („Ich lebte mit der Welt in Lust und Freuden und Du mußt leiden“) das Geschehen. Kaiphas, der Hohepriester, riet nach der Festnahme sogleich, ihn umzubringen. Anna Heinecke gestaltet begleitet von den beiden Oboen über pochendem Continuo mit warmem, jugendlich beseeltem Alt den Heilswunsch, „von allen Lasterbeulen“, völlig geheilt zu werden. Agnes Kovacs „folgte gleichfalls mit freudigen Schritten“ leicht und lebendig strahlend auch in den Höhen (Nr. 8) ihrer Sopranarie. Kammermusikalisch begleitet von den beiden Oboen bzw. dann Querflöten mit Continuo, erwiesen sich beide Arien als musikalische Delikatessen. Langsam steigert sich die Spannung mit den peinlichen Fragen der Magd, ob Petrus nicht auch dazu gehöre, dessen Antworten und dem Backenstreich des Dieners. Magd, Petrus, Diener, später auch Pilatus waren mit Solisten aus dem Chor besetzt, die ihre Aufgaben glänzend gemeistert haben und die Qualität des Chores, der über solche Stimmen verfügt, widerspiegelten. Auch die dramatischen Einwürfe der Massen bewältigte die Kantorei unter dem klaren wie eleganten Dirigat Alexander Lükens mitreißend und souverän. Klar und sicher auch der Chorsopran in seinen Höhen. In der Arie NR 11 beklagen Baß und Sopran das Leid Christi: Qual und Angst, Schmerzen, Wunden, fürchtet Christus, während das Orchester den Himmel reißen und die Welt erbeben läßt. Immerhin der Sopran geht derweil auf Rosen und spendet Trost. Andrey Akhmetov (Baß) war durch einen Infekt stimmlich beeinträchtigt, kam schon Maske tragend auf die Bühne und konnte seinen Part nicht voll aussingen. Bei ständig wechselnden Tempi (Tenorarie Nr.13), musikalisch anspruchsvoll für Solist und Orchester, wird die Betroffenheit des Petrus deutlich, der seine Beziehung zu Christus verleugnet.
In Teil 2 nimmt der Haß der Massen an Intensität und Häme zu, während Jesus zu seiner königlichen Aufgabe steht. Die philosophische Frage des Pilatus, was Wahrheit sei, wird nicht beantwortet. Das Reich Jesu ist jedenfalls nicht von dieser Welt, aber die grandiose Musik Johann Sebastian Bachs auch nicht. Geißelschläge werden orchestral ausgeteilt, die Dornenkrone aufgesetzt. Wenn das Volk schreit „Nicht diesen sondern Barrabam“ sorgen 16tel Triolen gegen punktierte 16tel und 32tel, zusätzliche, die Tonart sprengende Vorzeichen für maximale Erregung. Endlich schreit das Volke „kreuzige, kreuzige, kreuzige“ und zwar mehrfach. Musikalischer Höhepunkt des Abends war wohl die Altarie „Es ist vollbracht“ mit Sologambe elegisch gefaßt. Diese Musik ist tatsächlich sehr bewegend, auch wenn der Vorhang im Tempel zerriß von oben an bis unten aus unter intensivstem, hinabstürzendem Streichertremolo. Zuletzt aber hat das Chaos ein Ende, das Grab öffnet den Himmel, wenn Christus sich erbarmt. Chorus Nr. 39 und Choral Nr. 40 spenden Trost und Gelassenheit. Und das Gebet um Frieden ist in der Welt so aktuell wie selten. Es blieb lange still, bevor starker, anhaltender Applaus losbrach. Blumen gab es für die Solisten und den Dirigenten. Der Chor verabschiedete sich mit „Ach Herr laß dein lieb Engelein“ aus der ersten Fassung der Passion.
Leider war der Besuch nicht gut. Rund 40% der Plätze blieben frei. Dabei wäre das Gebet um Frieden wirklich eine Aufgabe für alle!
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