Das große Verwirrspiel

Eine Erzählung

von Michael Zeller

Connie Francis - Wikimedia Commons / © ABC Television
Das große Verwirrspiel
 
Von Michael Zeller
 
Bald nach seinem fünfzehnten Geburtstag rückte ihm Amerika auf die Pelle wie nie bisher in seinem jungen Leben. Auf einen Schlag, so kam es ihm vor. Dieses Land, von dem sie in der Schule lernten, daß es ihr Freund sei, jemand, auf den man sich immer verlassen könne, zeigte ihm in diesem Jahr ein noch freundlicheres Gesicht. Da war so ein sympathischer Mann, ziemlich jung noch, mit diesem blendenden Zahnpasta-Lächeln, der dort Präsident werden wollte, und damit unser alleroberster Freund. Als er‘s dann auch schaffte, freute sich Andrich. Ihm gefiel das breite Lachen, das er jetzt vorn auf allen Zeitungen sah. Wenn er das mit den uralten Männern verglich, die bei ihnen Politik machten …
 
Gleichzeitig hielt sich, ganz in seiner Nähe, ein amerikanischer Bursche auf. Ein weltbekannter Sänger sollte der sein. Leistete in einem Nachbarort seinen Militärdienst ab. Keine Stunde hätte der Junge mit dem Fahrrad bis zur Kaserne gebraucht. Die ganze Gegend hier war nach dem berühmten Soldaten verrückt. Am schlimmsten die Mädchen.
 
Beide allerdings, der Präsident wie der Sänger, berührten den Knaben Andrich eher am Rande. Mit seinen fünfzehn Jahren war er viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ihm taumelten ganz andere Wünsche und Träume durch die Seele. Wenn er hundemüde vom Bolzen auf dem Aschenplatz heimgekommen war zum Abendbrot, strahlte die Gloriole des kommenden Nationallinksaußen um sein aufgeschrammtes Knie. Und sobald er dann noch im Bett an der Seite Old Shatterhands durchs hohe Gras der Prärien Amerikas feindliche Indianer verfolgte, bis zu Mutters Gute-Nacht-Appell, dann ritt einsam der Rächer alles Bösen in bleifinsteres Gelände hinein und verlor sich bald darin. Vielleicht galt sein letzter Gedanke vorm Einschlafen den Lateinvokabeln, die er morgen früh noch auf dem Schulweg bimsen mußte. Selbst im Wilden Westen konnten sie vielleicht nicht schaden.
 
Das war Andrichs Welt mit Fünfzehn, und das war ihm mehr als genug.
 
Durch Horst, seinen älteren Bruder, nahm Andrich allerdings auch die Witterung von Bereichen auf, die von einer anderen Gefährlichkeit schienen als die der Indianer in fernen Prärien. Dieser weltberühmte Sänger zum Beispiel, im nächsten Ort, war so ein Fall. Seine Lieder, die der Bruder ständig auf den kleinen schwarzen Scheiben abspielte, ließen ihn eigentlich kalt. Daß ihre Mutter sich darüber aufregte, was dieser junge Kerl mit seinen Hüften machte, in aller Öffentlichkeit, war die Sorge von Erwachsenen. Nicht die seine. Mutter nörgelte auch ständig an ihrem Ältesten herum, daß er mit einem Buch namens „Blechtrommel“ unterm Arm herumlief, ein nagelneues Buch, das nur so vor Sauereien strotzen sollte. Obwohl das Buch in der Wohnung frei herumlag: Andrich verspürte keinen Funken Neugier, diese Sauereien selbst nachzulesen. Dafür war in seiner edlen Winnetou-Welt kein Platz.
 
Ein später Nachmittag zu Hause, die Stunde zwischen den Zeiten. Das letzte Sonnenlicht ließ ihr Wohnzimmer voll aufglühen. Bruder Horst hatte das Radio angedreht, Mutter war auch irgendwo in der Nähe. Da hörte Andrich diese Stimme. Die Stimme einer Frau. Deutsche Worte sang sie, aber falsch. Jedenfalls fremd. Wie komisch sie das „l“ rollte, in dem Refrain „seltsames Spiel“ … Und wie sie die Vokale dehnte. Das klang so anders. Er hörte genauer hin und spürte eine Stimme, die ihn anfaßte wie noch nie vorher. Da rieselte etwas in seinen Körper, mitten hinein. Es war ein Locken in dieser Stimme, von einer Kraft, die er nicht kannte. Ein Locken – aber wohin? Der Junge hatte keine Ahnung. Es traf ihn da etwas, wo er sich vollkommen fremd war. Riß einen Raum auf, diese Stimme, jenseits seiner bisherigen Welt. Drängte sich in ihn, in seinen Körper (war es der Bauch?), zog ihn mit sich, diese Stimme einer Frau. Vielleicht tat es sogar ein bißchen weh. Auch eine Welle von Angst überspülte den Jungen dabei, jede Menge Angst, sich zu verlieren, verlorenzugehen. Ein Blick zu Mutter, dann zu dem Bruder. Gott sei Dank merkten die nichts.
 
Jetzt, beim drittem Wiederholen, hatte er den Refrain kapiert: „Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Sie kommt und geht von einem zum andern.“ Allein an ihn gerichtet war diese Stimme, mit ihren Bögen, den verlängerten Vokalen, dem Zungen-L. Der Junge war verwirrt. Wie im Fieber suchte er eine Erklärung, rang sich die Frage ab: Ist es das, was man eine „Frau“ nennt? Eine richtige Frau? Keine Mutter. Keine Tante. Keine Mitschülerin. Das galt ja gar nicht. Das hier – in dieser Stimme schwang das Andere und lockte ihn fort von sich, aus sich heraus, aus seinen Fußballer- und Trapperträumen. Dieses unbekannte Land, das sich vor ihm auftat: Unahnbare Wonnen waren darin verborgen, und schlimmste Gefahren lauerten. In einem Atemzug. Ein heillos schönes Durcheinander. „Sie nimmt uns alles, doch sie gibt auch viel zu viel. Die Liebe ist ein seltsames Spiel …“
 
Mit dieser Botschaft sickerte die Stimme in seinen Körper, sank und sank, fand nirgends Widerhalt. Oben auf den Schultern saß blöd der Kopf des Jungen. Aus dem Äther strömte eine Nachricht und zuckte ihm durch Herz und Bauch an diesem Nachmittag, in ihrem sonnenhellen Wohnzimmer, neben Mutter und Bruder. Ich bin eine Frau, flüsterte es ihm ins Ohr, hörst du? Und du - du bist ein Mann. Jagte ihn hoch aus seiner Kindheit, öffnete den Türspalt für eine Geisterbahnfahrt voller Lust und Schmerz und Wut und Wahn und den richtig falschen Ausstiegen.
 
War nicht zu viel versprochen von der jungen Amerikanerin damals, vor mehr als einem halben Jahrhundert. Gilt bis heute.
 

© Michael Zeller