Schwimmen macht frei
Im Frühjahr trat das Gesetz zur Steigerung der allgemeinen Schwimmfähigkeit in Kraft. Der Gesundheitsminister hatte es am Parlament vorbei geschleust, eine Taktik, die in unsrer ausgehöhlten Demokratie inzwischen üblich geworden war.
Die neue Bestimmung hatte zum Ziel, die Zahl der Nichtschwimmer im Land zu senken, die offenbar besorgniserregend angestiegen war. Rettungsdienste warnten bereits seit Jahren vor gehäuft auftretenden sommerlichen Badeunfällen in Flüssen und Seen mit tödlichem Ausgang. Als Hauptursache des Problems galt der Wegfall des Schwimmunterrichts an immer mehr Schulen, da finanzielle Notlage und hohe Energiepreise vielen Kommunen den Unterhalt ihrer öffentlichen Hallenbäder nicht mehr erlaubt und sie zum Abriß gezwungen hatte.
Das Thema schien wenig Anlaß zu Diskussionen zu geben. Auch die ersten Maßnahmen der Regierung fanden keinen Widerspruch. Den Anfang machte eine Werbekampagne mit Broschüren über den gesundheitlichen Nutzen des Schwimmsports, gefolgt von einem an alle Haushalte per Boten und gegen persönliche Unterschrift verteilten Fragebogen mit der Überschrift ‚Schwimm dich frei!’, in dem für jeden Bewohner anzukreuzen war, ob er Nichtschwimmer oder Schwimmeinsteiger war oder bereits Schwimmabzeichen errungen hatte, und wenn ja, ob in Bronze, Silber oder Gold.
Ohne Bedenken hatte ich ‚Nichtschwimmer’ angekreuzt. Mein Sohn machte mir bei seinem nächsten Besuch Vorwürfe deswegen; um irgendwelchen Schwierigkeiten vorzubeugen, hätte ich mich zumindest als Einsteigerin, besser noch als Inhaberin eines Freischwimmerzeugnisses eintragen sollen.
Wie sich bald zeigte, hatte er Unrecht. Die Regierung ging bei ihrem Schwimmprogramm systematisch vor und überließ nichts dem Zufall. Sehr bald nach dem Rücklauf der beantworteten Fragebögen folgte die praktische Auswertung: Inhaber von Abzeichen wurden zur Überprüfung ihrer Fähigkeiten geladen, Anfänger zu Fortbildungskursen und Nichtschwimmer zu Wassergewöhnung und Basisunterricht bestellt. Auch die für diesen Kraftakt an Schwimmförderung notwendigen Räumlichkeiten waren mit einem Mal vorhanden; über Nacht erschienen wie von Zauberhand auf öffentlichen Plätzen und Schulhöfen, in Fußgängerzonen, Grünanlagen, Parks, Sportflächen und Fabrikgeländen Schwimmcontainer mit der Aufschrift: SCHWIMMEN MACHT FREI.
Der Anblick dieser grellgelben Behälter erfüllte mich mit Entsetzen. Die Vorstellung, in einem dieser wassergefüllten Kästen eingesperrt zu sein, ließ mich wieder in der dunklen Flut der großen Überschwemmung versinken, deren Grauen meine Kindheit bestimmt hatte. Die schwarze Brühe quoll um mich empor, meine nassen Kleider wurden schwerer und schwerer, die Lurke drang mir in Mund und Nase, ich würgte und sah in der dämmrigen Flüssigkeit Blasen aus meinem Mund nach oben steigen. Irgendwo war Licht über mir, dann zog mich etwas hoch, zerrte mich auf etwas Festes, ein Brett, dicht an einer Wand. Direkt über mir konnte ich die Decke des Raums erkennen, und nah unter mir war das Wasser, das schwarze Wasser, und es stieg.
Ich ließ das Papier mit dem ersten Termin fallen, dem ersten Termin, um mich ans Wasser zu gewöhnen. Ich war ans Wasser gewöhnt, und das für mein ganzes Leben.
Die zweite Vorladung kam schon drei Wochen später, bereits in strengem Ton. Auch dies Mal reagierte ich nicht darauf.
Mein Sohn mahnte mich bei seinem nächsten Besuch, die Einladungen, wie er es nannte, nicht zu ignorieren; ich würde Schwierigkeiten bekommen, warnte er mich.
Ich weiß nicht, ob er besonders obrigkeitshörig war. Oder ob er die Vorzeichen einfach nur sehr früh erkannte.
Das dritte Behördenschreiben enthielt einen Bußgeldbescheid über eine nicht geringe Summe und die Androhung einer Gefängnisstrafe für den Fall, daß ich die Vorladung weiterhin mißachten sollte.
Gleichzeitig wurde die Werbekampagne für Schwimmsport als Schönheitsmittel, Gesundheitsvorsorge und Beitrag zu gesellschaftlicher Solidarität zum politischen Propagandafeldzug ausgeweitet. An beidem nahmen die Medien von Anfang an begeistert und unkritisch teil. Der Schwimmunterricht, meldeten sie überschwenglich, werde von Eliteeinheiten des Militärs, vorzugsweise von erprobten Kampfschwimmern erteilt. Sämtliche Kosten übernehme der Staat. Kritiker des Programms wurden bald als Verharmloser und Leugner stigmatisiert und angefeindet. Der Präsident des Verfassungsschutzes schaltete sich ein und warnte vor einer Bedrohungslage durch die Leugner, besonders deren Treffen seien von Pöbeleien und ultraaggressivem Verhalten geprägt.
‚Wer Nachrichten liest,’ hieß es in der Presse, ‚muß sich fragen, wie viel Rücksicht wir noch auf diese Menschen nehmen wollen,’ oder ‚Es ist langsam an der Zeit, daß Politik, Sicherheitsbehörden und Zivilgesellschaft konsequenter gegen solche Leute vorgehen.’ So äußerten sich Organe, die zuvor als progressiv und freiheitlich hatten gelten wollen.
Eines Tages fiel mir zum ersten Mal ein T-Shirt ins Auge mit dem Aufdruck: ‚Nicht alle Nichtschwimmer sind ansteckend. Aber die meisten.’
Offenbar ging es hier nicht mehr nur um Sport, Gesundheitsvorsorge und sinnvolle Freizeitgestaltung. Sondern um eine Spaltung der Gesellschaft in Linientreue und Abweichler und darum, die Einen gegen die Anderen aufzuhetzen und kritische Stimmen ein für allemal auszumerzen.
Ich zahlte mein Bußgeld und wartete auf die nächste Vorladung. Ich ahnte, daß man mich nicht zur Ruhe kommen lassen würde. Ich begann, auf die amtlichen Schreiben zu antworten, versuchte, Verständnis für mein Kindheitstrauma zu wecken, hoffte, die Sache hinauszögern zu können, bis zu einem Zeitpunkt, der vielleicht eine politische Wende brächte. Aber ich wußte, daß dieser Wunsch sich nicht erfüllen würde.
Endlich bot man mir, wie es hieß, einen Vergleich an. Man erlasse mir die Gefängnisstrafe, wenn ich zu einer gemeinnützigen Lösung bereit wäre.
Ich erklärte mich einverstanden und wurde zu einem Termin in einer staatlichen Auffangstelle außerhalb der Stadt bestellt. Mein Sohn fuhr mich hin. Wir befürchteten beide, daß es auf einen Lageraufenthalt hinauslaufen würde, wenn es schlimm kam, um ein Umerziehungslager.
Es wurde bereits dunkel, als wir uns der angegebenen Adresse näherten, es war Herbst, und die Bäume am Straßenrand warfen uns ihre Blätter nach. ‚Laß uns woanders hin fahren’, sagte mein Sohn plötzlich, ‚du sollst nicht da hinein’, und er bremste und wollte in eine Seitenstraße abbiegen. Aber ein Militärlaster versperrte uns den Weg. Mein Sohn versuchte ein rasantes Wendemanöver, aber auch hinter uns tauchte ein gepanzerter Wagen auf. Ich sei wohl eine sehr wichtige Persönlichkeit, murmelte mein Sohn, daß sie meinetwegen solchen Aufwand trieben, und dann fuhr er weiter, in die einzige Richtung, die uns nicht versperrt war.
Die Straße endete an einem breiten Treppenaufgang zu einem großen Gebäude. Mein Sohn stieg aus und öffnete mir die Autotür. Ich stieg auch aus, und wir sahen einander kurz an. ‚Mach’s gut’. sagte er dann. ‚Du auch’, antwortete ich, und er setzte sich wieder ans Steuer. Jetzt ließ man ihn ungehindert wenden. Er war als Schwimmer mit Abzeichen in Silber registriert, amtlich überprüft.
Ich stieg die Treppe hinauf, die Luft roch nach Meer. Ich betrat das Gebäude durch ein breites Tor. Drinnen herrschte ein Halbdunkel, nur wenige Lampen brannten. Der Raum kam mir vor wie ein U-Boot-Bunker, obwohl ich noch nie einen gesehen hatte. Rechts und links erkannte ich lange Bänke, auf denen Menschen in dunklen Mänteln saßen. In der Mitte verlief ein schmaler Gang, hölzerne Planken führten auf einen Ausgang zu. Es gab keine Türflügel, man konnte in der Ferne den düsteren Himmel sehen, und etwas Dunkles, das sich bewegte.
Ich begann, zwischen den Sitzreihen hindurch zu gehen, immer näher auf die Türöffnung zu. Die Menschen auf den Bänken drängten sich dicht aneinander und blickten zu mir herüber, und ich schritt weiter. Neben dem Ausgang waren zwei Männer in Uniform postiert, einer links, einer rechts. Ich ging weiter, bis ich zwischen ihnen stand. Der linke hatte einen Schlagstock, der rechte ein Gewehr. Aber sie lächelten mich an. Beide.
Eine kleine Gangway führte von dort in ein offenes Boot hinunter. Es lag auf dem Sand. Das Meer wartete in der Ferne.
‚Wann legt das Boot ab?’ fragte ich.
‚Es legt nicht ab’, antwortete der eine der Männer. ‚Es fährt nirgends hin.’
‚Wir haben jetzt Niedrigwasser’, sagte der andere, sehr freundlich‚ ‚die da auf den Bänken warten alle auf die Flut. Wenn sie das Boot erreicht, können die Leute von dort aus direkt ins Meer steigen.’
‚Aber’, sprach der erste weiter, ‚du mußt nicht warten. Du kannst auch gleich vom Boot über den Sand zum Wasser gehen. Schwimmen macht frei.’
Und beide lächelten sie mich an.
© 2025 Dorothea Renckhoff
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