Klassik am Rand

Igor Parfenov in der Bandfabrik

von Johannes Vesper

Igor Pafenov - Foto © Johannes Vesper

Klassik am Rand

Igor Parfenov in der Bandfabrik
 
Der kleine Saal in dem Backsteingebäude einer ehemaligen Bandweberei hat mit dem zur Bar umgebauten Bandstuhl und den großen Fenstern seinen eigenen Charme. Inzwischen kommen Besucher nicht nur aus Langerfeld und Schwelm in das Kulturzentrum. Jetzt hatte Hausherr Erhard Ufermann zu einer Matinee am 9. November mit dem Pianisten Igor Parfenov geladen. Auf dem Programm standen zunächst Werke von Frederic Chopin (1810-1849), der ja vorwiegend im Salon aufgetreten ist und dessen Werke sozusagen für den Salon geschrieben worden sind. Zunächst spielte Parfenov fünf Mazurken (op. 33,4 h-Moll; op. 24,2 C-Dur; op. 68,4, f-Moll; op. 63,3 cis-Moll; op. 7,1 B-Dur). Die frühste dieser Mazurken aus op.7 komponierte Chopin im Alter von 20 Jahren zu Beginn seiner Karriere, die letzte aus op. 68 im Frühling seines Sterbejahres – sie gilt als seine letzte Komposition überhaupt. Chopin hat viele Mazurken geschrieben. Die hier vorgetragenen schienen in ihrer wenig salonhaften Zerrissenheit Chopins labile Psyche eindrucksvoll zu spiegeln. Mit dem berühmten Nocturne op. 48,1 C-moll aus dem Jahre 1841 zeigte der Pianist seine ganze pianistische Breite zwischen Melancholie und Virtuosität bei Tiefe und Zerrissenheit der Seele. Da boten die beiden Walzer op. 64,2 cis-Moll und op. posth. e-Moll eher Erholung. Das Fantaisie-Impromptue von 1834 bot noch einmal Gelegenheit, die ganz Brillanz chopinsche Klavierklangs zu entfesseln. Mit reichem Applaus begann die Pause.
 
Vor der Musik des zweiten Teils verwies Igor Parfenov auf das Datum. Am 9. November 1938 waren in Deutschland geschätzt mehr als 1000 Juden umgebracht, sowie zahllose jüdische Geschäfte, Versammlungsräume, Synagogen demoliert und zerstört worden. Im Gedenken daran hatte er das Programm des ausgesucht und neben Klavierwerken von Alfred Schnittke (1934-1998) das Lied „Bleibt gesund“ von Joel Engel (1868-1927) auf das Programm genommen. Joel Engel, der jüdische Volkslieder in Russland gesammelt hatte, war als Musiker in Charkiw und am Moskauer Konservatorium ausgebildet worden. Nach seinem Aufenthalt in Berlin (1922-1924) wanderte er nach Palästina aus. Der Wunsch „Bleibt gesund“ begann langsam, bald etwas Fahrt aufnehmend, beschwor das bedrohte Glück, bevor hektisch verzweifelt der chassidische Tanz ausbrach. Vor den Werken Engels erklangen die beiden „Aphorismen“ von Alfred Schnittke (1934-1998). „Senza Tempo“ herrschte Seelenchaos, starke dynamische Gegensätze, nahezu improvisatorische Klangeballungen, die tief im Pianissimo endeten. Das “Grave“ erschien wie ein langsamer zögerlicher Trauermarsch bei weitgehend aufgelöster Harmonik. Starke musikalische Eindrücke! Bei den Preludes (h-Moll op. 32,10 u. 12, den Fragmenten von 1917 und den Etudes Tableaux op. 39,3 (1917) kam die elegische Stimmung von Sergej Rachmaninow (1873-1943) voll zur Geltung. Technisch höchst anspruchsvoll lotete der Pianist alle emotionalen Tiefen aus. Da wirkten die drei Stücke Györgi Ligetis (1923-2006) aus Musica ricercata musikalisch einfacher, nahezu amüsant, doch ihre durchaus komplexen, rhythmischen Spielereien fesselten trotzdem den Zuhörer. Philip Glass (geb. 1937) mit seiner Etude Nr. 6 und erst recht John Cages (1912-1992) Jazz study lockerten zuletzt die Stimmung weiter auf. Für den begeisterten Applaus bedankte sich der Parfenov mit dem anrührenden Lied eines unbekannten Komponisten. Die eindrucksvolle Matinee an diesem denkwürdigen Datum hat den Besuch am Rande Wuppertals gelohnt.