Muttertag (3)

von Birgit Bayer

Birgit Bayer
Muttertag (3)

Noch abends spät wurde Lotti dann manchmal auf den Tisch der Wohnküche befohlen. Unter den Augen von Mamá schlüpfte Lotti für die Anprobe aus ihrem Kleid und dem gehaßten Leibchen, kletterte auf den großen Eßtisch, drehte und wendete sich, während ihre Mutter um sie herumschritt, um der Tochter das geriehene, neue Kleid anzupassen. Dann beugte die kleine Lotti sich seitwärts und protestierte: „Es ist viel zu lang.“
„Stell dich gerade hin, dann ist es nicht zu lang,“ sagte ihr Mutter kurz angebunden.
Also sprang Klein-Lotti, sobald Mamá die Korrekturen abgesteckt hatte, vom Tisch und lief zum großen Kleiderschrankspiegel im Schlafzimmer.
„Es ist doch viel zu lang,“ quengelte sie dann. „Mach es doch bitte ein wenig kürzer.“
„Es ist genau richtig,“ sagte ihre Mutter.
 „Bitte, bitte, Mamá, nur ein klein bißchen kürzer,“ bettelte Lotti. Aber ihre Mutter blieb hart.
„Bitte, Mamá, es ist doch mein Kommunionkleid und ich will hübsch aussehen darin,“ versuchte Lotti es unter Tränen. 
„Nein,“ zischte ihre Mutter kurz angebunden durch den Mundwinkel. Sie nahm die Stecknadeln, die sie, um freie Hände zu haben, mit den Lippen festhielt, aus dem Mund und bestimmte ein für allemal: „Eine Handbreit unter dem Knie. Alles andere ist unanständig“, und setzte mit Nachdruck den Rest der Stecknadeln, um die Saumbreite zu fixieren.
Abends schlüpfte Lotti ins Bett ihrer Mutter. „Mamá, Ärmchen“, sagte sie dann,  kuschelte sich an ihre Mutter, um mit ihrer artigen Nähe alles Mißfallen des Tages wieder gut zu machen, bis sie im Arm ihrer Mutter einschlief. Wenn Papá sein Bett aufsuchte, waren seine Frau und Lotti im Einzelbett auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers bereits zufrieden in Schlaf gesunken. Lottis Schwester Juli schlief derweil allein in dem Mädchenzimmer, in dem auch Lottis Bett stand, das jedoch fünfzehn Jahre lang leer und verwaist Juliane nur als Kleiderablage diente.
 
Lotti hatte nie Interesse an Männern. Juli war da anders. Sie hatte immer Männerbekanntschaften. Ständig war sie neu verlobt. „Du bist eine Schlampe“,  hatte Mamá immer zornig gesagt, wenn Juli trällernd von ihren Verabredungen kam. Obwohl Juli ihre Verlobungen nie ernst nahm. Sie lachte darüber, fand es lustig, daß die Männer sie begehrten. Trotzdem fand Lotti es immer ganz furchtbar, wenn ihre Schwester abends fröhlich nach Haus kam. „Ich habe mich verlobt“, rief sie dann schon im Flur. Dann kroch Lotti unter Mamás Bett. Sie wollte nichts hören von dem großen Familienkrach. Juli hat dann auch die Flirtereien büßen müssen. Sie wurde schon früh krank. Parkinson. Sie ist früh gestorben.
Wie es sich gehörte war Lotti, die Jüngste aus dem Dreimädelhaus, die Letzte, die heiratete. Zwei Jahre lang hatte sie auf ihren Wunsch das Turn- und Handarbeitsseminar in Köln besucht, um Lehrerin zu werden. Dort lernte sie Mia kennen, ihre einzige und beste Freundin. Ihren Bruder Clemens sollte sie später heiraten.
Helene aber war die Erste gewesen und sie hatte immerhin wählen können zwischen zwei Anwärtern. Ein älterer, bereits angestellter Lehrer, den sie durchs Studium kennengelernt hatte, hatte ihr längere Zeit zurückhaltend und immer korrekt den Hof gemacht. Die Verbindung war zeitweise abgebrochen, da Helene nach ihrem Studium keine Anstellung als Lehrerin bekam. 1923 herrschte Lehrerschwemme an den Schulen. Sie hatte umsonst studiert. Aus dem Internat Hersel kam sie zurück nach Hause in die Werkswohnung, gehorchte als folgsame Tochter den Anweisungen ihres Vaters und trat als Bürogehilfin in die Vereinigten Kesselwerke ein.
 
Ein strohblonder junger Mann mit nicht zu bändigendem Stachelhaar hatte sie vom ersten Tag an umschwärmt. Er zeigte ihr ihren Arbeitsplatz, setzte sich neben sie, wenn er ihr die Ablage erklärte, stieß sie sanft, wie absichtslos mit dem Ellbogen an, berührte versehentlich hin und wieder ihre Hand, drückte auch verstohlen sein Knie gegen ihres und blickte ihr beim Abschied tief in die Augen. Seine Augen konnten sie  streicheln und die fromme Helene erschauerte unter ihrem korrekten grauen Äußeren: So hatte Otto, ihr Lehrerkollege, sie nie angesehen. Ein paar Wochen gestattete Helene sich, berauscht zu sein von dem umwerbenden Charme und dem Verlangen des charmanten Strohkopfes. Dann riß sie sich zusammen. Daraus konnte nichts werden, das wußte sie. Er hinkte. Es war ein irreparable Verletzung aus dem ersten Weltkrieg. Er würde immer hinken. Und Helene würde ganz sicher ihrer Mutter keinen Krüppel als Schwiegersohn in spe servieren. Nach sechs Wochen Verzückung wies sie also pflichtbewußt den Charmeur barsch zurück und gab dem trockenen Otto ihr Jawort.
„Er hat Metzgerhände,“ sagte ihre Mutter verächtlich, als sie - bei einer der wenigen Gelegenheiten ohne Schürze - aus der kalten Pracht herausgerauscht kam, die man für die offizielle Begegnung mit dem ersten Schwiegersohn geheizt hatte. Und mit einem Blick auf die Tochter fügte sie milder hinzu: „Aber er ist sehr korrekt, sehr korrekt.“ Das war das höchste und auch das einzige Lob, das Mamá für Männer im allgemeinen und besonderen übrig hatte. Andere Kriterien gab es nicht, wenn denn überhaupt über irgendeinen Mann gesprochen werden mußte.  Helene war damit in eine korrekte Ehe entlassen, in die sie sich mit erfülltem Pflichtbewußtsein fügte.
 
Auch Clemens, Lottis Mann und Doris´ Vater, ereilte dieses hohe Lob. Jedoch wurde es zunächst nicht ausgesprochen, denn Clemens zeigte ein Auftreten, das Mamá verunsicherte. Er kam im Maßanzug im eigenen Wagen und mit der souveränen Mitteilung, daß er allein die Hochzeit auszurichten gedenke. Und zwar im teuersten Hotel Düsseldorfs, im Parkhotel. Lottis Mutter war sprachlos. Er war reich! Das genügte, um an ihm nichts auszusetzen zu finden.
Sie schwieg. Sie beobachtete, wie er mit ihrem Mann sprach, als ob er nicht nur gleichberechtigt, sondern vielleicht ein wenig höhererstehend sei und staunte insgeheim. Wie kam ihre törichte Tocher nur an einen solchen Mann? Sie erlaubte es sich, hin und wieder ein angedeutetes Lächeln zu zeigen. Wie läppisch nahm sich ihr eigener Mann bloß gegen diesen jungen, attraktiven und vor allen Dingen selbstbewußten Mann aus. „Er ist sehr korrekt“, sagte sie kurz angebunden zu ihrer Tochter, als sie die kalte Pracht verließ.
 „Eigentlich sollte Mia einen guten Mann bekommen, sie war die Lustige von uns beiden. Sie war die Hübschere. Aber ich kriegte den goldenen Apfel,“ stellte Lotti später mit schiefem Lächeln fest. Wie Clemens ihr den Hof gemacht hat, daran konnte sie sich schon wenige Jahr später nicht mehr erinnern. Blumen oder Pralinen gab es nicht, so verwöhnt war sie nicht. Auch ihrer goldigen Mamá weinte sie keine Träne nach.
„ Ich habe mich schon gefreut, als er mir den Antrag gemacht hat. Das hieß ja auch schon was, von so einem Fabrikhof in solch einen schönen Garten zu kommen. Ich hatte eben immer einen Sinn für das Feinere“, erzählte Lotti später. Darauf war sie stolz. Das zeichnete sie aus.
 
Tutta hat nicht aufgehört die Sangeskünste Marcias in den Himmel zu heben. Aber Neles Augen, die ihre Bestätigung suchen, geht sie aus dem Weg. Sie zählt nicht. Sie ist krank. Und wie die aussieht. Tutta möchte mit ihr nicht in Verbindung gebracht werden. Sie wirft einen kurzen Blick auf Nele und fragt sich, warum Esther sie auf dieses Fest eingeladen hat. Die soll doch in ihrer Irrenanstalt bleiben. Dort gehört sie hin. Ist sie alles selbst schuld. Darüber ist sich die Familie einig. Einfach abzuhauen nach Italien, nur am Strand rumzuliegen und Drogen zu konsumieren!
Dabei hatte sie ein Baby. Das hatte ein Loch im Herzen. Und Nele hat das einfach im Krankenhaus gelassen. Das Baby ist dann mit ein paar Monaten gestorben. Ihr Mann hat es allein beerdigt. Ein halbes Jahr später ist Nele aus Italien zurückgekommen. Sie hat dann noch einen Jungen und ein Mädchen zur Welt gebracht. Aber es zog sie wieder nach Italien. Und die Kinder immer mit. „Bleib mit den Kindern zuhause,“ hat ihre Schwester Esther ihr gesagt. „Das ist deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit.“
Aber Nele hat Julia beim Vater gelassen. Der war dann ganz erschrocken, als er erfuhr, daß Julia sich in der Schule immer unter der Bank versteckte.
Wenn Nele mal zuhause war, hat sie immer geschwärmt, welch tolle Internate sie für den kleinen Phillip gefunden hat. In der Schweiz und in Österreich. Doch er konnte nie lange in einem Internat bleiben, da er alles kurz und klein gehauen hat. Deshalb kann er nicht richtig lesen und schreiben. ´Wo ist der eigentlich abgeblieben`, fragt Tutta sich. Hier auf der Geburtstagsfeier ist er jedenfalls auch nicht.
 
Sie fühlt sich nicht mehr so beschwingt. Während ihrer Lobestiraden gegen milde aber stumme Gesichter ist ihr ein paarmal äußerst störend die merkwürdig zurückhaltende Bewegung von Doris in den Sinn gekommen, ganz am Anfang des Konzerts. Sie findet auch jetzt niemanden, der mit ihr gemeinsam Marcias Kunst hochhält. Ihr wunderbar glückliches Gefühl schwindet langsam. Das möchte sie nicht. Es verstärkt ihren Unwillen, daß Nele einfach so dasitzt und tut, als gehöre sie dazu. Die war doch fünf Jahre in der geschlossenen Abteilung.
Abrupt wendet sie sich ab, steht unvermutet ihrem Schwager, Marcias Vater gegenüber. Hier hat sie nun ganz sicher einen Komplizen. „Nicht wahr, Detlef, ist doch toll, wie deine Tochter singt. Du wirst doch sicher einverstanden sein mit Gesangstunden - sie hat doch wirklich eine sagenhafte Stimme, oder?“ Detlef senkt den Kopf und ist nicht bereit, etwas dazu zu sagen.
Tutta fühlt drohend die Ernüchterung. Ihre Stimme wird lahm, sie spricht ins Leere. Angelika, ihre älteste Tochter kommt ihr zur Hilfe. Ihr dicken Brillengläser blitzen. „Ja, finde ich auch,“ dröhnt sie. „Marcia ist wirklich sagenhaft. Sie sollte Gesangsstunden nehmen, das muß sie unbedingt tun.“ Angelika spricht das Wort ´unbedingt` noch mal in drei Silben. So wird ersichtlich, wie wichtig ihr Tuttas und natürlich ihr eigenes Anliegen ist. „Un - be - dingt muß sie Stunden nehmen. Toll, wie sie singt, ganz, ganz, ganz toll.“
Angelika hat eine wohltönende Stimme, aber auch eine schwere Zunge. Dafür kann sie nichts. Als Tutta vor 46 Jahren merkte, daß sie schwanger war, gab es keine Mittel, das abzuwenden. Tutta hat damals in ihrer Not sehr viele Chinintabletten geschluckt. Das Baby kam trotzdem zur Welt. Sein rechtes Auge war etwas kleiner als das linke. Sonst war es ganz normal.
Ein ruhiges Kind. Es hat nur ganz selten geschrieen und lag immer ganz still im Wagen. Wenn man es in den Laufstall setzte, blieb es stundenlang auf demselben Fleck sitzen. Und schaute nur so um sich. Es krabbelte nicht einmal auf die bunten Ringe und Glöckchen zu, die am Gitter hingen. Tutta war zufrieden mit ihrem friedlichen Kind. So konnte sie weiter arbeiten. Das Baby störte nicht im Bürobetrieb.
Angelika wuchs ganz normal auf. Sie war nicht gut in der Schule, weil sie sich nicht konzentrieren konnte. Wenn sie mehr als eine Seite lesen sollte, wurde ihr schwarz vor Augen. Sie bekam auch oft Kopfschmerzen. Aber sie machte eine ganz normale Ausbildung als Lageristin. In dem Beruf arbeitet sie heute noch und es macht ihr Freude. Sie ist jetzt sogar schon 20 Jahre glücklich verheiratet. Ihr Mann hat ihr vor der Ehe gesagt, daß er auf Sexualverkehr keinen Wert legt.
Ihn stört es auch nicht, daß Angelika sehr ungeschickt ist. Immer wenn sie von einem Tisch aufsteht, stößt sie ein Glas, eine Kaffeekanne oder eine Vase um. Sie stößt sich auch häufig, weil sie irgendwie eine Türöffnung nie richtig einschätzt und dann mit Hüfte und Schulter gegen den Türrahmen läuft. Oder sie fegt mit ihrer Schulter alle Mäntel in der Garderobe vom Kleiderbügel, weil sie plötzlich die Kurve nicht schafft. Aber sie nimmt das mit Humor. Es macht ihr nichts. Ihre zwei Schwestern nehmen es auch mit Humor. Wenn Veronika und Claudia gemeinsam mit Angelika am Tisch sitzen und sie will aufstehen, halten sie alles fest. „Vorsicht unser zerstreuter Professor will aufstehen,“ scherzen sie dann.
 
Als Angelika 20 war, ist mal durchgesickert, sie habe einen schweren Gehirnschaden. Aber das ist nur so ein Gerücht, typisch Kleinstadt. Über so etwas wurde in der Familie nie gesprochen. Krankheiten gibt es in dieser Familie überhaupt nicht. Alle sind sehr stolz auf ihr gesundes Knochengerüst. Tutta ist noch nie krank gewesen. Sie spricht gern von den gesunden Knochen der Familie. Am liebsten, wenn Doris dabei ist. Die hat nämlich schon ganz viele Knochenbrüche gehabt. Doris gehört eigentlich gar nicht zur Familie.  Sie war nur das Pflegekind der Tante. Das hat Tutta ihren Kindern eingeschärft, daß Doris nicht zu Familie gehört.


© Birgit Bayer - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Lesen Sie am nächsten Sonntag, 10. Mai (Muttertag) die
letzte Folge von Birgit Bayers Erzählung
Redaktion: Frank Becker