Sonntagmorgen XIII

Morgenkaffee im schwarzen Anzug

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Morgenkaffee  (XIII)
im schwarzen Anzug
 

Die Bäckerinnen wundern sich, daß ich nicht im Trainingsanzug erscheine, sondern im dunklen Anzug, in weißem Hemd mit schwarzer Krawatte. Sie sind zu diskret, mich nach dem Trauerfall zu fragen, aber sie reden nur in leisem Ton miteinander. Gleich werde ich zum Friedhof fahren.
 
Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Auf dem Wege komme ich an einer kleinen Kirche vorbei, die im hellsten Sonnenlicht liegt. Ich meine, den Kies unter den Füßen zweier alter Frauen knirschen zu hören, die auf dem Wege dorthin sind. Was für ein Glücksmoment, und wie friedlich ist die Vorstellung vom Tot-Sein und auf dem Friedhof liegen, und wie gut, daß ich mir nicht vorstellen muß, wie die Vorstellung von diesen jetzigen Glücksaugenblicken ins Herz schneiden würde, wenn gerade die Faust des Schicksals unerwartet zugeschlagen hat. So wie bei ihr, die jetzt zu Grabe getragen wird.
 
Sie war ganz überraschend durch den Garten an die Verandatüre gekommen, eine kleinere Frau, etwa Vierzig, sonnengebräunt, strähniges, blondes Haar, nicht gerade schön , aber sicher nicht häßlich, eher der Typ „robust und seetüchtig“; im Gesicht das Wissen, eher unauffällig auszusehen.
Wir könnten uns bitte umsehen, da und da und auch da, da habe sie die Gärten  auf Vordermann gebracht; Gartengestalterin, das sei ihr Beruf, und preisgünstig sei sie auch.
Was soll ich sagen, meine Frau wollte es tatsächlich versuchen, und in den nächsten Tagen arbeitete Helga, so durften wie sie nennen, täglich in unserem Garten, legte sogar die Steinplatten auf dem Weg neu, legte Eingrenzungen an, beschnitt Bäume und Sträucher, stützte wankelmütige Obstbäume, schaffte hübsche, kleine Beete mit Buchsbaum-Eingrenzungen. Geometrie wurde erkennbar.
 
Wir erfuhren mehr: Verheiratet war sie mit einem Gemüsehändler. Sie hatte sogar das Abitur geschafft, dann aber jede geregelte Ausbildung verweigert. Aber dies hier konnte sie.
Und  sie rauchte. Sie rauchte fast ständig, arbeitete sogar mit der Zigarette im Mundwinkel. Meiner Frau gefielen die Ergebnisse ihrer Arbeit, sie unterhielt sich oft mit Helga, und eines Tages wurden wir sogar von ihr eingeladen, sie habe Geburtstag.
Wir lernten ihren schnauzbärtigen, dicklichen Mann kennen, der kaum sprach und sich so unserer Beurteilung entzog. Wir erfuhren, daß sie mit ihrer Mutter schon länger verfeindet war. Die war auch nicht gekommen.
Die Wohnung war ärmlich eingerichtet. Wir tranken Kaffee, erzählten von unseren Berufen, ich bereits pensioniert. Sie hörte zu, aber ich merkte, daß es sie nicht interessierte. Ihre Augen wanderten unruhig hin und her. Ich glaube, sie fand, dies hier war nicht das Leben, ja, nicht einmal der Augenblick, die sie eigentlich wollte.
 
Nachdem sie das Gröbste geschafft hatte (und das war nötig gewesen, denn wir sind keine Garten-Könner), kam sie weiterhin in kurzen Abständen stundenweise und sah nach dem Rechten. Dann konnten wir den Hund schon einmal in ihrer Obhut lassen und Einkaufen oder zu sonst etwas gehen.
Wir sprachen nicht darüber, aber wir waren froh, daß wir sie hatten. Sie war uns sozusagen zugelaufen, aber wir hätten sie freiwillig nicht mehr hergeben wollen. Sie und wir gehörten zu unserem jeweiligen Leben. Sie wußte genau, was wir taten, was wir vorhatten, woran uns etwas lag, sie fragte auch manchmal, ob dieses oder jenes jetzt in Ordnung sein, zum Beispiel ein ungünstiger Leberwert. Sie suchte und fand für uns abgegangene Knöpfe, und, als eine Tante bestattet wurde, die uns oft besucht hatte, saß sie hinten in der Trauerkapelle.
 
Wir hatten uns schon einige Male gewundert, aber eines Tages wurde es klar.
„Sie bestiehlt uns“, sagte meine Frau. Einmal war Geld aus dem Portemonnaie verschwunden, ein anderes Mal sogar eine Armbanduhr. Beides hatte offen herumgelegen. Aus den Schubladen schien sie nie etwas zu entnehmen. Vielleicht kannte sie die verschiedenen Kategorien von Raub, Einbruch und Diebstahl und wählte Delikte, die sie für die leichteren hielt.
Nach einigem Nachdenken und Beraten beschlossen wir, nichts zu sagen. Da war nichts zu beweisen und nichts zu erreichen. Eine längere Reise gab uns die Möglichkeit, den Kontakt abzubrechen, da wir uns nach der Rückkehr nicht bei ihr meldeten. Vielleicht ahnte sie auch etwas von unserem Wissen.
 
Eines Tages rief ihre Schwester an. Helga sei an Krebs gestorben, und morgen sei die Beerdigung. Wahrscheinlich habe sie zuviel geraucht. Aber sterben habe sie nicht wollen, das habe sie immer wieder beschwörend gesagt, als sie im Hospiz lag.
 
Wir standen am Grab. Außer uns noch ihr Mann, der Gemüsehändler, und seine Freunde, dazu Helgas Schwester. Der Mann würde nach dem letzten Glöckchenbimmeln heimkehren in eine stille, dämmerige Wohnung. Hoffte er noch auf irgend etwas in der Zukunft?
 
Diese Geschichte hat kein schlüssiges Ende und ergibt keinen Sinn, was sonst ja die meisten Geschichten ausmacht. Sie endet aber für mich in einem Bild – eine lange breite Straße, eine Art Via triumphalis, und rechts und links Gestalten wie Skulpturen aus der Antike, immer zur nächsten Bewegung bereit. Und eine dieser Figuren ist Helga. Sie steht da mit angespanntem Gesichtsausdruck, nicht weniger edel als die anderen Figuren, und niemand denkt, daß sie jemals Geld und Armbanduhren gestohlen hat. Alle diese Gestalten haben dies und jenes gemacht, aber es waren kleine Schwankungen und Bewegungen auf dem Marsch, zu dem sie sich gleich in Bewegung setzen werden, und auf dem wir uns alle befinden. Wohin diese Straße führt, kann ich nicht sehen, aber mitten unter den Marschierenden ist Helga.
 
Wir sind froh, daß wir damals nichts gesagt haben. Wahrscheinlich konnte sie nicht anders.



© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker