Hanna

Eine Erzählung

von Birgit Bayer

Birgit Bayer

 

Hanna



Hannas Augen strahlen. Laut sagt sie: „ Es ist, als ob ich Jens sehe. Sie haben so viel Ähnlichkeit mit ihm. Er war so nett, als er hier war. Ich habe ihn wirklich gemocht.“
`Jens hat überhaupt keine Ähnlichkeit mit Bernd´, denkt Tina empört. `Wie kommt sie bloß darauf?´
Ihr Sohn ist ihr und nicht ihrem Mann wie aus dem Gesicht geschnitten, und das hat bis jetzt auch noch jeder festgestellt. Wo sieht Hanna Ähnlichkeiten mit ihrem Mann?
Sie blickt Bernd an. Er lächelte Hanna freundlich zu, fragt: „Ja?“
„Ja, wie er...sehr ähnlich... es war so schön, ihn hier zu haben...“, sagt Hanna mit leicht ersterbender Stimme.
Ihr Lächeln gehört ihr nicht mehr.
„Hier hat Jens geschlafen,“ zeigt sie Tina - ein kleines, schmales Zimmer, ausgerüstet mit Computer und allerlei Jungmännerkram. „Das Apartment nebenan, in dem Sie jetzt schlafen, war damals vermietet“.
„Aber das ist doch Peters Zimmer“, stellt Tina fragend fest. „Wo hat er denn dann geschlafen?“
„Bei mir,“ strahlt Hanna und steht schon in einem Zimmer, das von einem riesigen Ehebett mit prallen Plumeaus ganz ausgefüllt ist.
„Ich schlafe immer allein,“ lacht sie in Bernds Gesicht. Sie geht drei Schritte bis ans Bett, streicht das dicke Plumeau glatt und schaut Bernd unten dichten Augenwimpern an. Tina sieht es, Bernd nicht.
` Was glaubt die eigentlich?´, denkt Tina. Sie sieht zu ihrem Mann. Der blickt ausdruckslos im Zimmer umher. Er registriert wohl die mächtigen Möbel. Keine Bewegung möglich in diesem Zimmer.
Hanna nimmt die Hand vom Bett und kommt auf die beiden Gäste zu.
 „Möchten Sie einen Kaffee trinken?“, fragt sie, schon auf dem Weg zur Küche, als Bernd sich neben seine Frau aufs Sofa setzt.
„Oh, das wäre schön“, sagt Bernd. Tina sieht ihn verwundert von der Seite an. Er mag sonst abends keinen Kaffee.
Hannas Lächeln antwortet ihm. „ Einen großen?“, fragt sie, schelmisch lächelnd.
„Ja, bitte“, gibt sich Bernd freundlich.
`Er will nett zu ihr sein´, denkt Tina, `ganz gegen seine Art´.
„Das wußte ich“, lacht Hanna glücklich. „Mein Mann wollte auch immer einen großen Kaffee. Ich glaube, alle Männer mögen große Kaffeetassen“.
`Meiner nicht´, denkt Tina grimmig.
Hanna entschwindet in die Küche und kommt zurück mit einer überdimensionalen Porzellanschüssel, als Kaffeetasse getarnt. „Danke“, nickt Bernd.
Tina nimmt ihren Becher entgegen, der dagegen zierlich wirkt.
„Da ist mein Mann drauf“, sagte Hanna und weist auf Tinas Becher. „Er sieht gut aus, nicht wahr?“
Tina blickt auf das ins Porzellan eingeätzte Foto und machte freundliche Geräusche. In Wahrheit sieht sie nicht viel, weil sie ihre Brille nicht dabei hat.
„Aber ich mag ihn trotzdem nicht ansehen“, sagt Hanna.

„Sind Sie geschieden?“, fragt Tina höflich.
„Nein, ich bin noch verheiratet“, sagt Hanna. Und als sie das Fragezeichen in Tinas Gesicht sieht, fügt sie erklärend hinzu: „Mein Mann wohnt in Deutschland. Manchmal kommt er. Aber dann muß ich den Sprit bezahlen“.
Tina versteht nicht. „Wieso?“
„Das weiß ich auch nicht“, sagt Hanna. „Manchmal hoffe ich, daß er mir ein bißchen Geld hier läßt.
Er verdient sehr viel. Er ist Abteilungsleiter bei den Gas- und Elektrizitätswerken. Aber er sagt, ich habe mehr Geld als er. Weil ich doch allein lebe, nur mit Peter. Und er hat seinen Sohn bei sich und muß seiner ersten Frau und den beiden Mädchen noch Unterhalt zahlen. Wenn er dann hierher kommt, soll ich den Sprit für die Fahrt bezahlen. Sonst kommt er nicht. Ich glaube, er weiß gar nicht, wie wenig Geld ich hier in der Tschechei bekomme“.
Sie lacht. „Er ist schon komisch“.
Der Fernseher läuft währenddessen unaufhörlich. Eine Sendung über die Religionen der Welt. Bernd hört der Sendung zu. Hanna sieht auf Bernd, dann auf den Fernsehschirm.
„Überall auf der Welt bestraft einen der liebe Gott für die kleinen Sünden“, sagte sie schelmisch.
`Oh Gott´, denkt Tina.
„Glauben Sie daran?“, fragt Bernd.
„Aber ja“, sagt Hanna. Sie lacht so gurrend, findet Tina.
„Was glauben Sie denn?“, gluckert sie.
„Ich glaube nicht an irgendeine übergeordnete Macht,“ stellt Bernd fest.
Tina sieht ihren Mann von der Seite an. Ihr fällt auf, welch scharf gemeißeltes Profil er hat. Er sitzt sehr gerade. Er sieht abweisend aus, findet sie.
„Nun, aber irgendwer wird einen wohl für die kleinen schönen Sünden bestrafen“, lächelt Hanna. Sie räkelt sich auf der Couch ihnen gegenüber.
„Ich glaube nicht an Gott“, stellt Bernd fest. Und fügt dann  hinzu: „Nun - es ist sicher für viele Menschen ganz beruhigend, an so etwas zu glauben“.
`Oh Gott´, denkt Tina wieder. `Kann er nicht etwas netter sein?´.
„Ja“, sagt Hanna lahm. Sie scheint aus dem Takt gekommen zu sein.
Alle drei schauen auf den Fernsehschirm. Hanna bietet ein Glas Rotwein an.
„Warum wohnen Sie nicht zusammen mit ihrem Mann?“, will Tina vorsichtig an das vorhin angeschnittene Thema anknüpfen.
„Sein Sohn will das nicht“, sagte Hanna. „Rudolf. Ich darf auch nicht mit meinem Mann telefonieren. Dann wird er wütend und versucht die Verbindung zu unterbrechen. Oder er schreit so laut, daß ich es höre: `Frau Kartoffel, Frau Kartoffel - sie soll da bleiben, wo sie ist, die Frau Kartoffel´.
Und mein Mann sagt ihm leider gar nichts. Er müßte mal etwas sagen. Ich glaube, er hat Angst vor seinem Sohn. Rudolf will seinen Vater immer nur für sich alleine haben. Im Sommer habe ich Urlaub genommen, weil ich nach Deutschland wollte. Aber dann hat mein Mann angerufen und gesagt, das ginge nicht, weil er mit Rudolf nach Spanien führe. Dann sind sie nach Spanien gefahren und ich saß allein hier. Ich weiß auch nicht, ob ich noch warten soll.“
„Worauf?“, fragt Tina, die nichts versteht.
„Auf ihn, auf Willi“, erklärt Hanna. „Ich glaube immer, er muß doch erkennen, daß ich ihm nur Gutes tue.
Ihm und Rudolf. Ich habe alles für Rudolf getan. Ich habe alle Schularbeiten mit ihm gemacht, obwohl mein deutsch nicht so gut war, damals. Er ist schwer gestört. Sehr aggressiv. Er kann sich nicht eine Minute konzentrieren.
Ich habe ihm bei allem geholfen, ich bin mit ihm spazieren gegangen und auf den Spielplatz, ich habe mit ihm zusammen gekocht. Nachdem ich zum ersten Mal mit ihm Kartoffeln geschält habe, hat er gesagt, ich heiße gar nicht Karlovic, ich heiße Kartoffel. Seitdem nennt er mich Kartoffel.
Ich glaube, Willi weiß das gar nicht.
Drei Jahre habe ich in diesem Dorf in Deutschland gesessen. Das war eine schwere Zeit. Ich konnte doch nichts machen, ich durfte nicht arbeiten, ich hatte keine Bekannten oder Freunde. Nur nachmittags in der Schule konnte ich den Kindern helfen. Basteln. Da habe ich Peter auch immer mitgenommen, da war er wenigstens sicher vor Rudolf. Der hat ihn immer getreten und geärgert, er hat ihn mit frisch angespitzten Bleistiften in den Kopf gestochen. Darum stottert Peter auch. Noch heute, wo er schon 18 ist.“

Bernd schweigt. Er schaut er auf den Fernseher.
„Ist Willi Ihr zweiter Mann?“, fragt Tina, der plötzlich einfällt, daß auf dem Klingelschild zwei Namen stehen.
„Mein dritter,“ lächelt Hanna Bernd an. Sie sieht leicht verlegen aus. Bernd schaut kurz zu ihr hinüber und wieder auf den Fernseher.
Hanna giggelt plötzlich vergnügt. „Eine Zigeunerin hat mir aus der Hand gelesen“, sagt sie. Sie hat gesagt, ich werde vier Männer haben. Nun warte ich auf den vierten.“
Tina schaut sie an. „Glauben Sie daran?“, fragt sie und denkt: `Ob sie Bernd als Anwärter dafür sieht?
Aber den wirst du nicht knacken.´
Sie sieht in Bernds gleichgültiges Gesicht. Hanna kichert immer noch.
„Mein erster Mann“, erzählt sie, „ach, der war noch sehr jung. Sehr jung. Er war Soldat. Wir hatten ein Haus damals, von meiner Mutter. Darin haben wir gewohnt. Aber er wollte immer nur mit seinen Freunden herausgehen und trinken. Und ich habe ihn gelassen, was sollte ich tun? Er war so lebenslustig. Ich habe geglaubt, irgendwann hört er schon auf. Er hat getrunken, bis das ganze Haus weg war. Meine Mutti ist vor Kummer darüber gestorben. Dann habe ich mich scheiden lassen und war 10 Jahre allein.“
Sie lächelt entschuldigend.
„Und Ihr zweiter Mann,“ fragt Tina betroffen.
„Oh, mein zweiter Mann,“, sagt Hanna, wieder sehr vergnügt, „ der war sehr klug. Er sprach sechs Sprachen fließend. Er wollte immer nur lernen. Ich sollte ein Kind haben, hat er gesagt. Damit ich auch eine Beschäftigung habe. Ich glaube, er wollte auch Kinder“. Sie lacht.
„Aber als ich dann schwanger wurde, hat er gesagt, wo sollen wir hin mit einem Kind. Ich muß doch in Ruhe lernen. Da lernte er gerade die siebte Sprache. Nur mit mir hat er nicht gesprochen.“
Hanna lacht. Tina lacht mit, weil es lustig ist, wie sie es sagt. Aber eigentlich fühlt sie Mitleid. `Was denkt Bernd?´ Sie guckt zu ihm herüber. Er schaut auf den Bildschirm.
Hanna lächelt immer noch, dann seufzt sie ein bißchen.
„Ja, der Peter hat Pech gehabt. Ich war schon geschieden, als er zur Welt kam. Ich war 10 Jahre allein mit Peter. Er ist also eigentlich ohne Vater aufgewachsen. Ich mußte mir Arbeit suchen. Ich war am Tag Putzfrau und nachts  im Krankenhaus als Nachtschwester. Das war nicht einfach.“
Dann schaut sie Tina und Bernd an. Ihr Blick wird ein wenig wehmütig.
„Ich hätte auch lieber einen fürs ganze Leben“, sagt sie. „Ich hatte nicht gedacht, daß es immer nur für ein paar Jahre ist. Ich habe immer geträumt von dem Mann, der mich im weißen Kleid in die Hochzeitskutsche hebt. Ich glaube an die Liebe auf den ersten Blick.....tja, aber dann kam als dritter Karlovic. Aber ich weiß nicht.... ob ich noch auf ihn warten soll.
Er kommt nur zweimal im Jahr aus Deutschland. Für eine Woche. Und dann muß ich ihm den Sprit bezahlen. Sonst kommt er nicht. Und er will immer die Unterschrift von mir, damit er das Kindergeld für Peter bekommt. Warum braucht er das Kindergeld für Peter, wenn Peter doch bei mir wohnt? Er sagt mir, in Deutschland ist das so. Ich muß ihm wohl glauben.“
Sie schaut vor sich auf den Boden.
„Lassen Sie sich scheiden,“ bricht es impulsiv aus Tina heraus. „Das geht doch so nicht.“
Bernd sieht sie an und sagt: „Wie kannst du ihr so etwas raten. Du mußt ja nicht eine solche Entscheidung treffen“.
`Aber das sollte ich vielleicht´, denkt Tina plötzlich: `Man könnte glauben, Bernd ist aus Holz. Unbeweglich. Pokerface.´
„Ach ja, anderen kann ich auch gut raten“, sagt Hanna. „Nur mir selbst kann ich nicht raten.... Im Krankenhaus, da wollten alle immer, daß ich ihnen helfe. Sie glaubten, ich könne alle Probleme lösen. `Schick Hanna zu mir, Hanna soll kommen´, sagten sie. Und ich habe ihnen alle geholfen und habe sie getröstet....“
Bernd trinkt mit einem Schluck seinen Rotwein aus. „Es wird Zeit zu gehen“, sagt er entschlossen.
`Das Gespräch geht ihm auf den Nerv´, denkt Tina.

Impulsiv schließt Tina Hanna zum Abschied in die Arme. „Komm uns bald mal in Deutschland besuchen“, sagt sie herzlich.
`Darüber freut sie sich´, denkt Tina.
Bernd drückt Hanna einen kleinen knallenden Kuß auf die Wange.
Tina zuckt zusammen, weil er gleich darauf mit Donnerstimme durch die nächtliche Wohnung trompetet: „Und wenn Peter uns besuchen will, kann er das natürlich jederzeit machen.“
„Oh“, sagt er dann und hält sich die Hand vor den Mund, „ich sollte lieber still sein, denn er schläft ja schon.“
Hanna nickt, mit verwirrten Augen.
Sie steht in der geöffneten Haustür.
Tina schaut Hannas blonde Dauerwellen an. Hanna glaubt, blond macht jünger.
Sie ist klein und drall, in der Mitte zusammengeschnürt. Sie ißt so gern Süßes. Ihre kleinen Löckchen sind schütter vom vielen Bleichen. Man sieht überall die weiße Kopfhaut.
`Sie sollte ihre Haare nicht mit Wasserstoff färben. Und sie sollte nicht diese schrecklichen Dauerwellenlöcken haben. Sie ist doch erst 49..... Und sie hat wunderschöne blaue Augen´, denkt Tina. „Tschüs, mach´s gut,“ sagt Tina herzlich. „Es war schön bei dir“.
Hanna nickt. Aber sie lächelt nicht.
Sie gehen.

Nachts wird Tina von einem Geräusch wach. Bernd ist im Bad. Tina dreht sich auf die andere Seite. Von nebenan klopft es heftig gegen die Wand.
Tina zieht sich die Decke über den Kopf und versucht, wieder einzuschlafen.
Stöhnt da jemand? Eine Frau?
Das Klopfen ist rhythmisch und wird immer heftiger. Es dröhnt in Tinas Kopf.
Tina setzt sich im Bett auf und schaut durch den Flur ins Bad.
Die Badezimmertür steht weit auf, kein Geräusch dringt heraus.

Der Raum ist dunkel und leer......


© Birgit Bayer - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2007