Sonntagmorgen (XVI)

...mit Frömmigkeit, Frauenfiguren und Kuh im Garten

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Sonntagmorgen XVI

mit Frömmigkeit, Frauenfiguren
und Kuh im Garten
 

Heute morgen lerne ich in der Bäckerei eine bisher Unbekannte kennen. Eine ältere, schlanke Frau erscheint, ihr kleines Auto steht vor dem Schaufester. Sie unterhält sich mit der Bäckerin, und ich erfahre, daß es sich um eine pensionierte Krankenschwester handelt. Gestern ist sie umgezogen, sie wohnt nun in einer Wohngemeinschaft, mit älteren Leuten,  Ehepaare, auch Alleinstehende, aber alle scheinen sich innerhalb ihrer Kirchengemeinde gefunden zu haben. Ganz wunderbar sei es, plötzlich wieder so viele Beziehungen zu haben.
 
Vor einer Woche war sie auf dem Kirchentag. Die Bischöfin Käsmann habe sehr klar und engagiert gesprochen, aber eben doch  „protestantischer“, sagt sie, als der andere Redner, ein Theologe und Philosoph, der habe auf einer anderen Ebene geredet, und der große Unterschied sei ihr aufgefallen.
   Ich frage  vorsichtig – was für ein Unterschied?
Nun, er habe gesagt, eine wichtige Grundlage des Glaubens sei heute mehr die persönliche Begegnung  mit Gott.
Die meisten genieren sich heute, so zu reden, denke ich. Sie sagen lieber, daß sie sich dem Spirituellen nähern. Sie sagen zwar, daß sie daran glauben, aber sie gehen selten in die Kirche. Wir müssen uns in unserer Zeit damit abfinden, daß es so ist. Massenweise kommen die Leute nur, wenn die Kirche eine gesellschaftliche Macht ist, - und die so genannte persönliche Begegnung wird dabei weniger wichtig  -, und wenn sie auch das Wissenschaftsmonopol hat.
 
Bevor die Kirchenleute anfangen mir leid zu tun, fällt mir ein, daß dieses Etwas, was in der Mitte der Völker steht, dieser Turm des Glaubens und der Wahrheit, der keinen Beweis braucht, in meinem und im Bewußtsein der Leute nicht zu schrumpfen scheint. So kommt es mir vor.
Ich fahre noch zu meiner Tankstelle.
Tankte, schaute nach dem Öl, zahlte, ging aus dem Tankstellen-Gebäude: makelloser, hellblauer Himmel, ein grünlackierter Maschendraht, dahinter kurzgemähter Rasen, ein tiefbrauner Holzschuppen, dahinter Hecken, krüppelige Obstbäume, helle  Früchte daran, Sonne, Schönheit zum Vergehen.
 
Beschloß, noch glücklicher zu sein, fuhr drei Kilometer weiter zum Atelier von Bildhauer und Maler  Lange. Hier ist alles noch ein bißchen schöner, uralte Fachwerkhäuser, nur einzelne, unterscheidbare Geräusche in der Stille, das Kalkwerk nebenan, das Flüßchen  mit seinen Auen, die weißkalkene Atelierhütte mit grünlackierten Holztüren, Schlösser davor. Der Künstler ist abwesend.
Aber er ist nie ganz abwesend. Auf dem Hocker mit Gipsresten steht eine halbgefüllte Kaffeetasse, über einem hochschraubbaren Ständer liegt ein vielfach befleckter Arbeitskittel – und viele Frauenskulpturen, liegend, sitzend, sinnend, liebend. Frauen bewirken schon viel, wenn sie nur da sind, denke ich. Aber heute verlangt man auch, daß sie kranken- und rentenversichert sind. Natürlich ist es besser so.
Auch, wenn der Künstler hier ist, wird er nie allein sein, denke ich. Immer wird er etwas in sich fühlen, das er liebt.
Freilich, manchmal scheint es dann weg zu sein, dieses Etwas. Dann ist es vielleicht gekränkt, erwartet, daß man ihm mehr Platz verschafft.
 
Für mich ist es Zeit, mich daheim zum Mittagessen einzufinden.
Wir sitzen wieder als Großfamilie am Eßtisch, und meine Frau berichtet, sie habe gestern im Fernsehen eine Dokumentation über Heimkehrer gesehen, Rußlanddeutsche, die Deutschland wieder verlassen, um nach Sibirien zurückzukehren, das sie mehr als Heimat empfinden. Das haben sie hier erkannt.
Ungeheuerlich, sage ich. Wo hier doch alles so gut ist.
Ja, sagt sie, aber die Weite der Landschaft dort, die Stille. Sie weiden ihr Vieh, melken ihre Kuh - 
„Es bleibt unverständlich“, sage ich. „Eine Kuh müßte sich hier doch auch finden lassen. Und eine Wohnung mit einem größeren Garten.“
 
Ich solle keinen Unsinn reden, sagt Oma, und ich solle die Sehnsucht dieser Leute ernst nehmen. Sie wäre auch lieber wieder in Berlin.
Berlin ist nicht Sibirien, denke ich. Aber die Rußlanddeutschen werden wissen, woran ihnen mehr liegt.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker