Die Kürbishütte

Eine Erzählung

von Dorothea Renckhoff

Foto © Frank Becker
Die Kürbishütte


Ich muß Anni eine Kerze bringen; sie hatte immer schon Kerzen so gern.

Damals, als ich Streichhölzer noch nicht anfassen durfte – sie hatte eine eigene Kerze in ihrem Zimmer und zündete sie an; wir saßen zusammen am Tisch, und ich sah ihr Gesicht im Lichtkreis wie auf einer goldenen Münze. Heute stieß ich mich an einem Verkaufstisch, da lagen Dominosteine und Printen, und daneben Netze voll glitzernder Geldstücke, aber von jeder kleinen schimmernden Scheibe sah Anni mich an. Da habe ich mich vorbei gedrängt an den Ständen mit falschen Kürbissen, dahin, wo die Kerzen stehen, und habe eine gekauft für sie.
 
Ich mußte zu ihr, mußte sie sofort sehen, und all die Fratzen in den Schaufenstern mit Lichtern hinter glotzenden Augenlöchern hetzten mich mit grinsenden Mäulern schneller und schneller zu ihr. Es wußte ja niemand sonst von der geheimen Gesellschaft im Keller ihrer Eltern, von den schweigenden Gestalten mit den großen dunkelgelben Köpfen, mit den dürren Holzkörpern in Gewändern aus zerrissenen Spitzen und abgeschabtem Samt, mit den Füßen aus Bürsten, den Händen aus Blättern, und mit den schönen Gesichtern, aus denen es leuchtete. Es wußte niemand, wie wir aufgenommen wurden in diesen Kreis, und wie wir vom kommenden Jahr träumten und von der Hütte, die wir bauen wollten, im Garten am Hang, gedeckt mit Zweigen und Ranken und geschmückt mit dunkelgelben Kürbissen. Aber nie haben wir diese Hütte gebaut, und die geheime Gesellschaft hat sich lange zerstreut; der Keller ist uns verschlossen, das Haus ist verkauft, in den Schaufenstern grinsen die grellen Plastikgesichter, die Hexen und falschen Kürbisse, und Anni ist tot.
 
Aber ich habe eine Kerze gekauft, um sie Anni zu bringen; zum ersten Mal, am Tag vor Allerheiligen. Letztes Jahr um diese Zeit war sie noch bei uns.
Das Friedhofstor stand noch weit offen, aber der breite Weg unter den hohen Bäumen war fast leer, ein trüber Dunst hing zwischen den Stämmen; den ganzen Tag war es nicht richtig hell geworden. Vereinzelte kleine Lichter nur brannten auf den Gräbern. Während ich zu Anni ging, traf ich immer weniger Besucher, und als ich in die Nähe der Mauer kam, wo sie liegt, war ich allein. Die hohen Häuser hinter der Mauer blickten mit hellen Fenstern in den nassen Garten herunter, Menschen bewegten sich dort oben hinter den Scheiben, und manches Fensterkreuz war mit Girlanden aus kleinen Hexen geschmückt; das alles schien so nah.
 
Auf dem Grab neben dem von Anni sah ich zwei Gestalten, unbeweglich wie die trauernden Engel auf den alten Familiengrüften. Bei meinem letzten Besuch waren sie noch nicht da gewesen. Die eine hielt die andere umschlungen, als hätte man dort eine Pieta errichtet. Aber mit einem Mal regte sich die größere der beiden Figuren. Was ich für die schmerzensreiche Mutter gehalten hatte, war ein Mann mit langem grauem Haar, und mit den Armen umschlang er ein Kind auf seinem Schoß.
‚Helfen Sie mir, Sie müssen mir helfen,’ sagte der Mann und richtete das Kind auf seinen Knien ein wenig auf. Es war ein Junge, und er war verletzt, ich sah Blut an seiner Stirn und an seiner Brust, vielleicht war er auch tot, er rührte sich nicht, und seine Augen konnte ich nicht erkennen, denn sein Gesicht war von mir abgewandt.
Ich hatte Angst. Ich schob die Hand in die Tasche, aber der Mann löste einen Arm von dem Kind und griff nach mir, ‚nicht telefonieren,’ sagte er mit einer hohen heiseren Stimme, ‚kein Arzt kann ihm helfen und kein Krankenwagen,’ und nun glaubte ich sicher, das Kind wäre tot, und der Mann ließ mich nicht los, ‚helfen Sie mir nur, ihn dort hinein zu bringen,’ flüsterte er und wies mit dem Kopf auf eine der prunkvollen alten Grabkapellen vor der Friedhofsmauer, er mußte den Jungen umgebracht haben und wollte ihn dort in dem verfallenden Gemäuer verbergen, und ich sollte ihm helfen, vielleicht stieße er mich dann in eines dieser dunklen Löcher, die hinter den Türen solcher Kapellen gähnen. Aber er ließ meine Hand nicht los, und es ging eine derartige Kraft von ihm aus, daß ich mich gehorsam niederbeugte und den Jungen bei den Beinen faßte; gemeinsam trugen wir ihn zu den Stufen hinüber und lehnten ihn gegen die Türeinfassung, und der Mann zog einen Schlüssel aus der Tasche und schob ihn ins Schloß, ich sah, wie er ihn drehte, erstaunlich leicht, die Tür schwang auf, ohne in den Angeln zu quietschen, und der Mann griff nach innen und betätigte einen Schalter, und im nächsten Augenblick wurde es hell.
Ich wunderte mich nicht, daß eine neugotische Friedhofskapelle mit bröckelnden Mauern innen elektrisches Licht hatte. Denn das war nur die erste in einer Kette von Merkwürdigkeiten, an der ich mich ins Innere des Gebäudes gezogen fühlte, während ich gemeinsam mit dem fremden Mann das Kind über die Schwelle hob. Doch im hellen Licht sah ich, daß das Kind lebte. Eine tiefe Schramme zog sich über seine Stirn, und in seiner Brust klaffte eine furchtbare Wunde, aber es lebte, und es lächelte sogar, als es den Blick durch den Raum wandern ließ. Er war ganz leer, es gab keine Särge, keinen Katafalk, und weder Grabplatten im Boden noch offene Löcher, nur eine einzige Tür in der rückwärtigen Wand, ‚wir brauchten einen direkten Zugang ins Haus,’ sagte der Mann, und es klang fast entschuldigend, während er auch diese Tür aufschloß, und im nächsten  Augenblick hatten wir die Friedhofsmauer durchquert und standen in einem Treppenhaus, die Flurbeleuchtung flammte auf, und vor uns wartete der Korb eines altertümlichen Fahrstuhls. Wir stiegen ein mit dem Jungen zwischen uns. ‚Haben Sie eine Tasche?’ fragte der Mann, während wir nach oben fuhren, ‚Sie müssen sie an der Garderobe abgeben,’ und schon öffnete sich eine zweiflügelige Wohnungstür vor uns, und der Mann nahm mir die Tasche weg und reichte sie einer jungen Frau, die hängte sie an einen Haken in einer riesigen getäfelten Garderobe. Es hingen schon viele Taschen da, es waren Beutel und Rucksäcke darunter, die junge Frau mußte wohl daran gestoßen sein, denn einige der Beutel bewegten sich, als habe etwas sie in Schwingung versetzt.
 
‚Die Konferenz hat schon angefangen,’ sagte die junge Frau, und wir trugen das Kind hinter ihr her, sie öffnete wieder eine Tür, und viele Gesichter wandten sich uns zu, eine ganze Gesellschaft, Männer und Frauen, auch Kinder darunter, sie saßen um einen gewaltigen Konferenztisch, und auch wir nahmen daran Platz, und den Jungen betteten wir zwischen uns in einen Armstuhl. Er ließ das alles ohne Klagen geschehen, und die Gesellschaft nahm ihr Gespräch wieder auf. Ich weiß nicht recht, was sie gesprochen haben, es muß sich um eine Vorstandssitzung gehandelt haben, und immer mehr wunderte ich mich über die Anwesenheit der Kinder. Viele saßen bei den Erwachsenen auf dem Knie, oder auf der Sessellehne, aber es gab auch einige, die sich an den Rücken eines Mannes oder einer Frau klammerten oder ihnen sogar im Nacken saßen. Manche sahen krank aus, manche waren auch verletzt, aber keiner so schwer wie der Junge, den ich hatte herein tragen helfen. Ein kleiner Junge hockte neben einer Frau auf dem Tisch, er trommelte dauernd mit den Füßen und schnitt Grimassen, aber bis auf die Frau beachtete ihn niemand. Nur ein einziges Kind saß ernsthaft und aufrecht auf einem eigenen Stuhl, es war ein Mädchen, manchmal lachte es auch, dann lachte der Mann neben ihr zurück, und oft wandte er sich zu ihr und fragte etwas, sie antwortete jedes Mal, und er hörte aufmerksam zu, aber ich glaube, er war der einzige, der mit dem Kind an seiner Seite sprach.
Irgendwann stand der Fremde auf, mit dem ich gekommen war, auch die anderen erhoben sich, mit und ohne Kinder bewegten sie sich auf den Ausgang zu, und während mein Gefährte und ich wieder das verletzte Kind trugen, konnte ich sehen, wie Männer und Frauen ihr Gepäck von der Garderobe nahmen. Aber keiner, der zu Beutel oder Rucksack griff, hatte ein Kind dabei. Als ich nach meinen eigenen Sachen faßte, bewegte sich ganz deutlich etwas in der Tasche am Haken daneben, als säße ein kleiner Hund darin oder sonst ein Tierchen, und ich hörte einen leisen Ton wie das Miauen eines Kätzchens.
 
‚Ich glaube,’ sagte mein Fremder neben mir, ‚der Junge fühlt sich besser, er kann jetzt selber gehen, wir haben Sie lange genug in Anspruch genommen,’ und mit einer zwingenden Geberde löste er meine Hände von den Beinen des verletzten Kindes. ‚Steigen Sie die Treppe hinunter und nehmen Sie die Haustür zur Straße,’ sagte er, ‚der Friedhof ist jetzt schon abgeschlossen, von dort kommen Sie nicht mehr ins Freie,’  und ich fühlte mich durch die Etagentür in den Hausflur gedrängt. Am Fahrstuhl bildete sich eine Menschentraube, aber während ich daran vorbei zu kommen suchte, sah ich, wie es sich in den Rucksäcken immer stärker bewegte, und ganz kurz schob sich zwischen den zwei ledernen Griffen einer Aktentasche ein kahler rosiger Kopf hervor.
Ich rannte die Treppe nach unten, die Tür fiel hinter mir zu, ich stand auf der Straße vor dem Haus, zwischen parkenden Autos und Kindern mit Zauberhüten und Kürbissen aus Plastik. Ich wandte mich noch einmal um, zu dem Haustor, aus dem ich gekommen war, ich wartete auf die, die nach mir kämen, ich wollte sie noch einmal sehen, mit ihren Kindern, mit ihren Taschen. Aber es kam niemand mehr.
Jetzt stehe ich seit einer Stunde, es ist dunkel geworden, aber das Haustor hat sich nicht mehr geöffnet. Ich muß Anni eine Kerze bringen, aber der Friedhof ist schon geschlossen.


© Dorothea Renckhoff - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker