Sonntagmorgen (XIX)

mit Donnerschlag

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Sonntagmorgen XVIIII

mit Donnerschlag
 
 
Neben dem Kaffeebecher liegt die aufgeschlagene Morgenzeitung. Erst jetzt merke ich, daß ich die Brille vergessen habe, es reicht nur zum Lesen der Überschriften. Das geht schnell, und nun blinzele ich mit aufgestützten Armen in den diesigen Morgen hinaus, auf die verstaubte Herde ausgesetzter Autos.
Einmal ertönt ein schrilles Signal nebenan, dann ist wieder eine Partie angelieferter Brötchen-Embryos aufgebacken. Die Bäckerin macht sich im Nebenraum zu schaffen. In Abständen kommen junge Männer, alte Männer, Kinder, zum Brötchen-Holen, dann ist eine Zeitlang Stille. Kann es sein, daß so ein Sonntagvormittag unbenutzt verstreichen kann, ohne daß jemand zugreift?
 
Einige hundert Meter weiter hätte ich einen Blick auf fast den gesamten Stadtteil, der in einer langgestreckten Talschlucht angehäuft ist. Morgen werde ich mit dem Auto hindurchfahren, einkaufen, zum Überweisungsautomaten an der Sparkasse gehen, in den Supermarkt unter leise dudelnder Musik eintreten, Wärme, ein buntes Gewimmel von Menschentypen um mich und an mir vorbei, jetzt einen Umschlag nach Übersee aufgeben, zur Poststelle - -
 
Und jetzt fällt es mir ein: diese lustlose Stunde, aber auch das tägliche Wohlfühlen-Wollen, alles dies kann mit einem Donnerschlag zerbersten, und dann kann uns ein Gefühl überkommen, das uns würgt wie eine eiserne Klammer.
 
In dieser Poststelle bin ich alle paar Tage. Der Pächter, ein älterer Mann mit Glatze, begrüßt mich, sagt vielleicht, daß von diesem oder jenem Freund etwas in der Zeitung steht, bewahrt mich nach prüfendem Blick auf die Adresse vor zu hohem Frankieren. Ich frage nach seinem krebskranken Freund, den er versorgt;
Ja, er ist noch einmal bestrahlt worden, es geht aber, an Arbeiten ist aber nicht zu denken.
 
Der Postmann war früher Prokurist in einer Firma, die zugemacht hat. Jetzt hat er sein Imperium hier. Alle mögen ihn, obwohl er niemanden umwirbt oder jemandem schmeichelt. Der ganze Stadtteil kennt ihn. Meine Nachbarin hat ihm von einer arbeitslos gewordenen, älteren Bekannten berichtet, auch die hat bessere Tage gesehen, hat sogar studiert. Der Postmann hat der Arbeitslosen eine Stelle besorgt.
 
So war dies alles vor dem Donnerschlag, der mich gestern erstarren ließ. Da war ich, wie oben beschrieben, in den Supermarkt eingetreten, und bereits im Eingang begegnete mir mein Postmann. Ehe ich etwas sagen konnte beschied er mich: „Es ist geschlossen. Für immer.“
Er berichtet an meinem erstaunten Gesicht vorbei:  „Ich habe einen  Fehler gemacht. Da war eine Kassendifferenz, fast Zwanzigtausend, das hätte ich der Postdirektion sofort melden müssen. Da warten die keinen Augenblick. Haben zugemacht. Aus.“
 
Ich denke, jemand hat gestohlen. Ich denke auch an jemand in diesem Markt, aber bisher hat niemand das Wort Diebstahl gebraucht.
Aber eines ist sicher: Mein Postmann war es nicht. Das würden zehntausend Bewohner unseres Stadtteils unterschreiben.
 
Es ist eine Geschichte wie eine Legende. Jedermann weiß, daß mein Postmann nicht stehlen kann. Er kann nur Gutes tun. Wahrscheinlich weiß es auch die Post. Wahrscheinlich denkt die Post: Wer so gut ist, daß er nicht merkt, wie er bestohlen wird; oder daß er glaubt, das gestohlene Geld würde irgendwie auftauchen, oder Angst hat, es zu melden, der kann nicht unser Postmann sein.
 
Mein Postmann wird mit seinem Freund in eine kleinere Wohnung ziehen müssen. Beide sind nicht mehr jung. Es wird keine Arbeit für den Postmann geben. Wird dieser Augenblick, wird diese Situation je für ihn vorbei gehen? Oder wird er sich bis zum Ende in ihr gefangen fühlen?


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker