Sonntagmorgen

Stehcafé I

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Hinweis:
Waldluft und Anstrengung berauschen eben. Nicht alle Bäckerinnen  sehen so aus wie sie von einem erhitzten Waldläufer beschrieben werden.

Sonntagmorgen
 
Stehcafé I
 
Der Sonntagmorgen, ich meine den stillen, den menschenleeren, er verdient alle Aufmerksamkeit der Dichter. Manche von ihnen werden freilich jetzt noch schlafen. Wir früh Aufgestandenen jedoch erleben die Welt, in der auch die  Mächte, die uns sonst zu bedrohen scheinen, noch mit eingezogenen Krallen schlafen. Wenn es im Autoradio schlechte Nachrichten gibt, sind sie meistens von gestern. Im übrigen sind Nachrichten fast immer schlecht.
 
Ich fand den Morgen ereignisreich, als ich zum nahen Wald fuhr. Schon die wenigen Gesichter an den Bushaltestellen verlockten zum Studium: Gepflegte Tanten und Matronen auf dem Weg zu Verwandten, sie suchen Menschennähe (meine Bäckerei-Verkäuferin sagt immer „Nein, ich bin überhaupt nicht allein. Ich habe ja meine Nichte“); ein wackerer, trocken aussehender Wandersmann mit nur wadenlangen Hosen auf dem Weg in den Wald (einmal fand sich ein Mädchen, das es mit ihm versucht hätte, aber er hat sich nicht getraut); eine blasse, dickliche Frau, die mit einem großen, gefährlichen, an der Leine zerrenden Hund kämpft – und überhaupt die friedliche, die stille Welt, von der noch keinerlei Gefahr zu drohen scheint. Es stimmt doch wohl, daß tagsüber immer etwas passiert. Oder daß etwas passiert, das einem selbst fast hätte passieren können. Oder daß jemandem etwas passiert, bei dem wir wissen sollten „it tolls for you“ – immer vorausgesetzt, daß die Menschheit ein mystischer Leib ist, wofür ja spricht, daß jeder allein nur ein röhrender, unappetitlicher Waldmensch wäre.
 
Der Verstockte, Schweigsame aus dem Nebenhaus, der nie grüßt, hier sehe ich ihn mir in Jogging-Kleidung entgegen kommen. Er spricht nie ein Wort, wenn ich ihm sonst begegne. Aber ich hebe sportlich grüßend die Hand, er stockt, kann nicht anders, grüßt zurück. So weit habe ich ihn schon einmal gebracht.
 
Ich parke den Wagen, trotte los und begegne noch weiteren Menschen. Ein Afrikaner und eine kleine, klug aussehende, bebrillte Frau, vielleicht eine Lehrerin, joggen an mir vorüber. Kleine Gruppen vor Frauen, nicht mehr ganz jung, aber so immer öfter zu sehen, walken mit ihren Stöcken eilig heran; einzelne Väter rennen vorbei, sie schieben dreirädrige Kinderwagen, die geländegängig sind. Männerblicke folgen niedlichen Radfahrerinnen, die von Begleithunden beschützt werden.
 
Und dann kommt der ersehnte Augenblick. Ich finde die kleine Bäckerei, die am Sonntagmorgen geöffnet hat, bekomme einen Pott Kaffee und ein belegtes Brötchen. Der Kaffee wird begierig geschlürft. Draußen ist es windig, aber auch sonnig zwischen weißen, rasch segelnden Wolken. In knapper Entfernung sehe ich, wie der Wind die Bäume im Wald beutelt.
 
Zwischendurch kommt ein laut schreiender – es ist lustig gemeint, wirkt jedoch ziemlich bräsig - , alter Mann herein: er sei Rentner, habe darum keine Zeit, ob seine Frau da war, nein, dann müsse sie ihre Brötchen selber holen, Tschüß. Junge Männer und Mädchen in Gauloises-Sonntagskleidung latschen herein, kaufen Brötchen, abgelöst durch ein gepflegtes Mädchen, süß aussehend, süß plappernd. Nacheinander zwei etwa achtjährige Jungen – festen Schrittes, offenen Blickes, präzise bestellend, Bitte, Danke, stimmt genau, Tschüß und einen schönen Sonntag. Mir bleibt der Mund offen stehen. Das hätte ich als Junge nicht gebracht, verdammt noch mal! Wo wird man so gemacht? Ich will zurück, noch mal an den Anfang, auch so werden.
 
Es wird stiller in meiner Steh-Bäckerei. Nur ein Paar im mittlerem Alter, mehr als nachlässig gekleidet, steht noch draußen an einem Tischchen und schlürft Kaffee. Sie rauchen – mir wurde so früh immer flau davon, heute lasse ich es schön – und , tut mir leid, ich denke bei ihrem Anblick allerlei Unerlaubtes: Ob sie geschiedene Singles sind, frühverrentet, krankgeschrieben, arbeitslos, obdachlos?
Ich weiß, die sehen nicht alle so aus
 
Das Drama meiner mageren, blassen, kleinen Stehbäckerin hat inzwischen begonnen, die, welche sonntags immer zu ihrer Nichte geht. Ich sehe sie immer wieder vor die Türe gehen und eine Zigarette anzünden, aber Sekunden später kommt sie mit verzweifelten Gesichtsausdruck wieder herein – ein Kunde naht. So geht es vier bis fünf Mal.
 
Schließlich sage ich: „Vielleicht möchten Sie am liebsten nicht rauchen. Wer raucht, ist abhängig. Man lebt ja ständig mit Unlustgefühlen.“
„Ich bin nicht abhängig. Ich kann jederzeit aufhören“, sagt sie trotzig.
„Ich verstehe. Klappt eben nicht so?“
„Wenn ich bei meiner Nichte bin“, ergänzt sie, „dann kann ich es fünf bis sechs Stunden lassen.“
„Das wäre wohl immer schön“, sage ich etwas zu hartnäckig.
„Ich kann es nicht leiden, wenn einem Leute andauernd was beibringen wollen. Ich weiß selber was ich will.“
Ich zweifelte nicht daran, ich hätte da ja selber lange Quälereien hinter mir, sage ich mit einem Versuch zur  Versöhnung. Aber dazu ist es zu spät.
„Oder die alles besser wissen“, fügt sie schärfer hinzu.
 
Ich begreife, daß ich längst damit  aufhören müßte. Ein weiteres Brötchen scheint notwenig zu sein. Es könnte vielleicht helfen. „Bitte.“
„Hier.“
„Ist da sonst nicht immer ein Salatblatt auf dem Brötchen?“, frage ich.
„Haben wir heute nicht“, sagt sie kurz angebunden. Ich glaube es zwar nicht, aber ich sehe zu, wie sie wieder mit ihrer Zigarettenschachtel vor die Türe geht. Vom Rauchen werde ich nie mehr mit ihr sprechen.


© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009

(Diesen Anfang waren wir Ihnen noch schuldig!)
Redaktion: Frank Becker