Donnerstagvormittag

mit Hinweis auf Mogadischu

von Karl Otto Mühl

Foto © Frank Becker
Donnerstagvormittag

mit Hinweis  auf Mogadischu


Ich habe die Bäckerin gefragt, ob sie einen Zahnarzt kennt, der die Zähne ohne Bohren behandelt. Das soll es neuerdings geben, ich habe es in der Zeitung gelesen.
Nein, hat sie gesagt, so einen kennt sie nicht. Aber sie hat den besten, den es hier in der Stadt gibt. Ich soll unbedingt hingehen.
Wieso? Ich hätte doch nichts, sage ich heuchlerisch.
 „Nur, damit Sie ihn schon einmal kennen. Ein großartiger Arzt. Er sieht Ihnen sofort an, worum es geht. Und er versteht einen so.“
Jetzt weiß ich Bescheid. Sie ist wie alle Leute. Alle wollen, daß man zu ihrem Zahnarzt geht.
„Sie denken dabei gar nicht ans Bohren, wenn er mit Ihnen redet. Sie wissen sofort, daß er es richtig macht.“
Das machen alle, denke ich. Sie wissen alle zunehmend besser, wie man ausführliche Rechnungen schreibt.
„Und Ihnen tut wirklich nichts weh?“ fragt die Bäckerin. 
„Nein. Natürlich nicht.“ Sie soll sich um ihre Brötchen kümmern, denke ich.
 
Nein, hier werde ich zu meinem Problem keine Orientierung finden. Ich fahre über sehr schmale Landstraßen zu meiner Tankstelle, die inmitten grüner Wiesen liegt. Der Himmel ist wolkenlos, die Sonne strahlt, die Halme der Wiesen wiegen sich, der Wind rauscht dazu die Melodie.
 
Der muskelgewaltige Bruder des Inhabers kreuzt meinen Weg mit einem Traktor plus Anhänger. Meine traditionelle Zapfsäule ist noch belegt durch einen Mercedesfahrer mit grauem Stoppelbart, der mit kraftvoller Bewegung die Wagentüre schließt und den Zapfhahn ergreift. Ein fügsam aussehender junger Mitfahrer steigt ebenfalls aus und wartet geduldig. Ich ahne finanzielle Unabhängigkeit und Herrschaftsbewußtsein.
Das Wichtigste für mich: Alle diese kraftvollen Männer um mich, der Inhaber, der Traktorfahrer, auch der Junge da, der Braungebrannte jetzt mit dem Geländewagen, sie alle sehen so aus, als ob sie niemals Probleme mit ihren Zähnen hätten. Sie denken nicht einmal daran, fühle ich. Nur ich denke daran.
 
Am Nachmittag gehe ich wieder in die Sauna, und, was soll ich sagen, ich stoße schon wieder auf  Alexander, den Kasaken.
Er sitzt, munter, aufmerksam und schweißbedeckt auf der obersten  Stufe des Schwitzraumes.
„Was ich Sie noch fragen wollte“, sagt Alexander nach einigen Minuten, „haben  Sie eigentlich Probleme nach dem Rauchen? Weil Sie beim letzten Mal so genau danach gefragt haben.“
Nein, hätte ich nicht. Das Rauchen hätte ich mir schon lange abgewöhnt, vor zwanzig Jahren, während einer Bronchitis. Nur Oma, 98, sei mir eingefallen, die klage manchmal, daß sie es vermißt, nicht ab und zu eine Zigarette rauchen zu dürfen. Ob es gesund sei oder nicht, sie habe sich dabei immer sehr entspannt. Der Arzt habe es ihr natürlich verboten. Aber die Ärzte wüßten auch nicht alles, sagt sie immer. An die hätte ich bei dem Thema gedacht, und an meine Bäckerinnen, von denen zwei rauchen.
 
Alexander hat Verständnis. Es sei für die meisten schwer, sich so etwas abzugewöhnen. Er habe es auch lange nicht geschafft. Bis er eines Tages –
„Was war da? Wissen Sie, ich habe jetzt ein Buch gelesen, „Die Macht des Unbewußten“. Seitdem verstehe ich einiges von Psychologie.“
„Tatsächlich?“ Alexander macht ein respektvolles Gesicht.
Nun, bei ihm sei es vor etwa fünf Jahren passiert, sagt er. Als er zum soundsovielten Male mit seinem Versuch aufzuhören gescheitert sei, habe er sich gesagt: So geht es nicht. Jetzt schalte ich um, jetzt frage ich nicht mehr nach meinem Gefühl, wenn es überhaupt eines ist, ich denke nicht weiter darüber nach.
Alexander merkt, daß er es nicht erklären kann. Ich verstehe ihn, aber ich kann es auch nicht erklären. Man ruft eine dunkle Gestalt in sich wach, sie richtet sich auf, und sagt, ich will, ich gebe nicht mehr vor, darüber nachdenken zu müssen, denn das ist der alte Versuch der Selbsttäuschung –
 
„Es ist wie ein Klick im Kopf“, sagt Alexander. „Seitdem mache ich das nicht nur beim Rauchen so, sondern bei allen Sachen, über die ich mir klar geworden bin.“
Der Klick. Ich verstehe noch besser. Man ist so, wenn man ein Heiliger wird, oder wie Helmut Schmidt über den Einsatz in Mogadischu entscheiden muß, oder gar zu heiraten beschließt. Oder zum Zahnarzt zu gehen, wenn es sein muß.
 
So sollte ich auch sein. Ob ich im nächsten Leben so werden sollte wie Alexander? Oder doch lieber wie ich? Aber mir ist, wie fast jedem vernünftigen Menschen, klar, daß es besser und sicherer ist, überhaupt nicht mehr auf die Welt zu kommen.
 
Am nächsten Tag bin ich dann doch zum Zahnarzt gegangen.
 

© Karl Otto Mühl - Erstveröffentlichung in den Musenblättern 2009
Redaktion: Frank Becker